Julia Extra Band 0354
hatte. Damals hatte sie ihn gern damit aufgezogen, dass er etwas mit einer „älteren“ Frau hatte.
Allein die Erinnerung daran versetzte ihrem Herzen einen schmerzhaften Stich. Als Julia erschrocken zusammenzuckte, fragte einer der umstehenden Kollegen besorgt: „Alles in Ordnung, Julia? Du siehst plötzlich kreidebleich aus.“
Mit bebender Hand stellte Julia ihr Glas auf einen Tisch und antwortete heiser: „Es ist nur die Hitze. Ich gehe kurz an die frische Luft.“
Blicklos bahnte sie sich einen Weg zwischen den dicht gedrängten Gästen hindurch zu den Terrassentüren, hinter denen sich ein gepflegter Garten auftat. Sie registrierte nur am Rande, dass der Kollege sie bat, sich nicht zu weit zu entfernen. „Du musst doch gleich deine Rede halten.“
Sobald sie auf die Terrasse trat, atmete sie tief ein und aus. Sie fühlte sich schwach und hatte das Gefühl, neben sich zu stehen. Offenbar hatte sie einen Schock erlitten! Außerdem schien sich an diesem schwülen Abend Mitte August ein Gewitter zusammenzubrauen. Die Luft über der Stadt war schwül. Dunkle Wolken waren heraufgezogen und kamen bedrohlich näher.
Der Garten des Royal Archaeology Club war berühmt für seine exotischen Pflanzen, die Archäologen von ihren abenteuerlichen Reisen aus aller Welt mitgebracht hatten und die von den Gärtnern des Clubs liebevoll gehegt und gepflegt wurden. Doch Julia nahm diese Pracht gar nicht wahr. Sie klammerte sich so fest an die Brüstung, dass die Knöchel gespenstisch weiß hervortraten. Vor ihrem geistigen Auge lief ein Film bittersüßer Erinnerungen ab.
Verzweifelt drängte sie die aufsteigenden Tränen zurück. Aus heiterem Himmel überkam sie das Gefühl, einen schmerzlichen Verlust erlitten zu haben. Wie hatte alles so falsch laufen können? Sie war zweiunddreißig Jahre alt und stand, wie manche sagen würden, in der Blüte ihres Lebens, aber sie selbst hatte eher den Eindruck, ihre besten Jahre lägen bereits hinter ihr. An dem Tag vor zwölf Jahren, als ihre Maschine vom Flughafen des auf der Arabischen Halbinsel gelegenen Emirats Burquat abgehoben war, war etwas in ihr gestorben. Zwar hatte sie ihr Studium abgeschlossen und sogar promoviert, geheiratet und ihren Ehemann auf ihre Weise geliebt, doch sie hatte nie wieder richtig tief empfunden. Der Grund dafür befand sich im Ballsaal hinter ihr – bedrohlich und unheilvoll. Sie hatte ihn so sehr geliebt!
„Dr. Somerton, es wird Zeit für Ihre Rede.“
Der dringliche Tonfall riss Julia aus ihren Gedanken. Mühsam gelang es ihr, neue Kräfte zu mobilisieren. Sie atmete noch einmal tief durch, dann drehte sie sich um. Mit Spannung wurde im Ballsaal ihre fünfzehnminütige Rede erwartet – und sie würde sie in dem Wissen halten müssen, dass er da war und ihr zusah.
Falls er sich überhaupt an mich erinnert.
Vielleicht hatte er sie auch längst vergessen. Julia presste die Lippen zusammen. Sicher hatte er genug Frauen gehabt, um sich nicht im Detail an jede zu erinnern. Verheiratet war er auch gewesen. Leider musste sie zugeben, dass sie ebenso gut über ihn informiert war wie die Leute, die in der Mittagspause Klatschblätter verschlangen.
Möglicherweise würde er sich wundern, wieso sie ihm bekannt vorkam. Energisch unterdrückte Julia den erneuten Schmerz. Vielleicht hatte er die langen Nächte in der Wüste vergessen, in denen sie sich unter dem glitzernden Sternenhimmel wie die einzigen Menschen auf der Welt vorgekommen waren. Vielleicht erinnerte er sich nicht mehr an den ergreifenden Augenblick, als sie beide eins geworden waren. Es war für sie beide die erste Begegnung mit der körperlichen Liebe gewesen. Die anfängliche Unerfahrenheit war bald heißer Leidenschaft und unersättlichem Verlangen gewichen.
Vielleicht hatte er auch vergessen, was er ihr eines Nachts zugeflüstert hatte: „Ich werde dich immer lieben. Keine andere Frau wird jemals mein Herz so erobern wie du.“ Und vielleicht erinnerte er sich auch nicht mehr an den schrecklichen Tag, als er ihr im prachtvollen königlichen Palast von Burquat eine so kalte, distanzierte und grausame Abfuhr erteilt hatte.
Julia war sich sicher, dass sie für einen Mann wie Kaden längst in Vergessenheit geraten war. Daher widerstand sie dem Impuls, den altehrwürdigen Club fluchtartig zu verlassen. Stattdessen setzte sie ein Lächeln auf und folgte ihrem Kollegen zurück in den Ballsaal. Dabei versuchte sie verzweifelt, sich zu erinnern, worüber sie eigentlich reden
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