Julia Extra Band 356 - Ebook
denen er bisher nie hatte umgehen müssen, hatten ihm geholfen, einen rastlosen Abend zu überstehen. Doch jetzt, im trüben Licht des kalten Apriltages, stand ihm nicht der Sinn nach Geistern und bizarren Kreaturen der Nacht.
Nebelschwaden waberten über die Felder, zogen bis auf die Straße und schränkten die Sicht ein. Carlos blinzelte wieder, wollte sichergehen, dass er sich die Vision nicht nur einbildete.
Doch nein, sie war noch immer da.
Eine Frau. Groß, weibliche Kurven, blass, ihr Haar in der Farbe von goldenem Honig – so weit er sehen konnte. Es war kunstvoll aufgesteckt und zum Großteil von einem Spitzenschleier verdeckt. Die Frau trug ein langes weißes Kleid, Arme und Schultern waren bloß, die Haut fast so weiß wie die eng anliegende Korsage, die ihre hohen festen Brüste betonte.
Eine Braut in vollem Hochzeitsstaat, doch anders als die versetzte Braut in den Spukgeschichten war diese hier real. Eine moderne Handtasche unter den Arm geklemmt, stand sie am Straßenrand und hielt den Daumen in die Luft.
Ein Stück von der Frau entfernt brachte Carlos sein Motorrad zum Stehen.
„Gott sei Dank!“
Die Stimme war ebenfalls real, dazu weich und leicht heiser. Gepaart mit dem Rascheln des langen Kleides, als die Frau auf ihn zueilte, verjagte diese Stimme jeden Gedanken an übernatürliche Erscheinungen aus seinem Kopf.
Was, zum Teufel, tat sie hier?
Martha hatte den Ausruf nicht zurückhalten können. Sie lief auf das Motorrad zu. „Endlich!“
Endlich war sie nicht mehr allein. Endlich gab es einen anderen Menschen außer ihr in dieser verlassenen Gegend. Endlich war ein Mann – ein großer, gut gebauter Mann, soweit sich erkennen ließ – auf der Straße aufgetaucht, an der sie schon viel zu lange stand. Ein Mann, der ihr hoffentlich helfen würde, der sie vielleicht sogar irgendwo hinbringen würde, wo es warm war, bevor sie hier erfror. Sie hatte das Gefühl, dass sie gefährlich nahe davor stand. Allein dieses kurze Stück zum Motorrad zu laufen, jagte einen stechenden Schmerz wie tausend Nadelstiche durch ihre Füße. Füße, die sicher bald am Boden angefroren wären.
Nicht zum ersten Mal verfluchte Martha den romantischen Impuls, der sie dazu gebracht hatte, diesen abgelegenen Ort für ihre Hochzeit zu wählen. Obwohl … ursprünglich hatte sie sich ja genau das gewünscht – Ruhe, Stille, keine Störungen … Das prächtige Herrenhaus mitten in einem riesigen Park, meilenweit entfernt von Zivilisation und somit hoffentlich auch von Paparazzi oder sonst jemandem, der herausfinden wollte, wer sie war, hatte den perfekten Rahmen geboten. Haskell Hall war ihr wie ein wahr gewordener Traum vorgekommen. Hier konnte sie den glücklichsten Tag ihres Lebens in absoluter Privatsphäre feiern, und hinterher … Es sollte ihr gleich sein, ob man herausfand, wer sie war und wie dramatisch sich ihr Leben verändert hatte.
Allerdings hatte sie das Anwesen an einem sonnigen Tag mit strahlend blauem Himmel besichtigt. Die breite Auffahrt zum Haus hatte ohne Nebelschwaden da gelegen, zudem war es damals gute zehn Grad wärmer gewesen als heute, wo ihr die feuchtkalte Luft durch und durch ging, als sie diese Auffahrt hinuntergestürmt war.
Warum nur war die Auffahrt mit einem Mal so lang? Und der romantische Traum einer offenen Kutschfahrt mit ihrem soeben angetrauten Ehemann war zerplatzt wie eine Seifenblase. Nun, sie war die Auffahrt ja auch nur einmal in einem schnittigen und vor allem beheizten Sportwagen entlanggefahren, warm angezogen mit Jeans und Kaschmirpullover. Gott, was würde sie nicht alles dafür geben, hätte sie jetzt etwas, das sie sich um die Schultern legen könnte! Nur vermutete sie, dass das die Kälte, die in ihrem Innern herrschte, auch nicht vertreiben würde. Die war sogar noch schlimmer als das eisige Wetter.
Damals hatte sie auch weiche Lederstiefel getragen und nicht strassbesetzte Satinpumps, die mittlerweile völlig durchweicht waren und wahrscheinlich weniger Schutz vor dem rauen Asphalt boten als Zeitungspapier. Die elegante Frisur, erst vor einer guten Stunde kreiert, löste sich in der feuchten Luft auf, und das so sorgfältig aufgetragene Make-up hatte der Nieselregen, der ihr entgegenschlug, verlaufen lassen.
Der Mann, den sie hatte heiraten wollen, war noch immer irgendwo in dem Herrenhaus und bemühte sich hastig, alle Beweise für die schmutzige kleine Episode, die er sich geleistet hatte, zu beseitigen. Für sie hatte er nie solche Leidenschaft
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