Julia Extra Band 356 - Ebook
Staub liegen zu lassen. Denn dann konnte mich niemand mehr verletzen. Ohne ein Herz und ohne Gefühle würde ich nie wieder an den Schmerz in den Augen meiner Mutter denken müssen, so bildete ich mir ein. Und ich müsste mich nie wieder für das Zigeunerblut in mir schämen. In meinem Leben gab es keinen Platz für Gefühle. Das habe ich mir jedenfalls immer wieder gesagt, und daran habe ich auch geglaubt – bis ich dich getroffen habe. Ohne dass ich es gemerkt habe, hast du nach und nach die Stücke meines Herzens aus der Gosse geholt und wieder zusammengefügt. Mit jeder Berührung und jedem Kuss hast du mein Herz wieder zusammengesetzt und es mir zurückgegeben. Aber denke nur nicht, dass ich dir dafür dankbar war. Oh nein – im Gegenteil. Am liebsten hätte ich mir mein Herz wieder aus der Brust gerissen, wenn es möglich gewesen wäre. Ich wollte deine Liebe nicht. Und ganz sicher wollte ich dich nicht lieben.“
Alena hielt den Atem an. Niemals hätte sie ein so ehrliches Geständnis von ihm erwartet. Doch falls er ihr Erstaunen überhaupt bemerkt hatte, so reagierte er nicht darauf.
„Ich habe deine Liebe nicht verdient, Alena“, fuhr Kiryl mit bitterer Stimme fort. „ich habe sie nicht wertgeschätzt – genauso wenig wie dich. Denn ganz tief in meinem Inneren habe ich mich selbst nicht wertgeschätzt. Unabhängig von allem, was ich erreicht hatte, war ich immer noch der Sohn meiner Mutter. Und das bedeutete in den Augen meines Vaters, dass ich nie etwas taugen würde. Erst du hast mir gezeigt, was es bedeutet, gut genug zu sein. Es bedeutete, mich von den Ansichten meines Vaters zu distanzieren und mir die Liebe meiner Mutter zum Vorbild zu nehmen. Zu begreifen, dass Liebe wichtiger ist als alles andere auf der Welt. Ich dachte, wenn mich die Gefühle für dich überwältigten, so sei dies ein Zeichen von Schwäche. Erst jetzt weiß ich, dass ich mich geirrt habe. Erst jetzt weiß ich, dass die wahre Stärke darin besteht, zu lieben und geliebt zu werden.“
Er seufzte traurig. „Leider kann ich die Uhr nicht zurückdrehen, obwohl ich mir das so sehr wünschen würde. Ich kann nicht erwarten, dass du mir vergibst. Ich kann diese Liebe, die du mir aus freien Stücken geschenkt hast, nicht wieder zurück ins Leben bringen. Ich weiß, ich habe diese Liebe getötet. Aber wenigstens kann ich dich wieder freigeben, damit du deine Liebe einem anderen schenkst. Jemandem, der dich mehr wertschätzt, als ich es getan habe. Aber ich werde auch versuchen, zu dem Mann zu werden, an den du immer geglaubt hast. Morgen werde ich mit Vasilii sprechen und ihm alles sagen.“
„Nein.“
Kiryl sah Alena stirnrunzelnd an. „Alena, das ist schon in Ordnung“, sagte er mit sanfter Stimme. „Du musst keine Angst haben, dass Vasilii dich zu einer Ehe mit mir zwingen wird. Das werde ich nicht zulassen.“
Sie schüttelte den Kopf. „Davor habe ich keine Angst. Ich habe nur Angst davor, den Rest meines Lebens ohne dich zu verbringen. Das könnte ich einfach nicht ertragen. Ich dachte, ich könnte es, aber es will mir nicht gelingen. Damals in London, als du … als wir … du hast recht gehabt.“
Alena biss sich auf die Lippen und sah hinaus auf den Fluss. Sie wagte es nicht, Kiryl bei diesem Eingeständnis anzuschauen. Also zwang sie sich, ruhig zu bleiben und weiterzusprechen.
„Als du gesagt hast, dass du mich dazu bringen könntest, dich zu begehren, hattest du recht. Eigentlich wusste ich das schon davor, aber mir war nicht klar, wie sehr ich mich nach dir verzehrt habe – bis du mich wieder in den Armen hieltest. Immer wieder habe ich versucht, mir einzureden, dass ich ein falsches Bild von dir hatte. Aber es hat mir nicht geholfen. Ich habe mich vor mir selbst dafür geschämt, ich war so wütend auf mich. Aber egal, wie sehr ich mir gewünscht habe, dich nicht mehr zu lieben, es hat nicht aufgehört. Wenn du mich also wirklich auch liebst und nicht nur … Kiryl!“
Er hatte sie an sich gezogen und küsste sie mit solcher Leidenschaft, dass sie keine Zweifel mehr haben konnte, was er für sie empfand. Natürlich war ein Kuss nicht genug. Doch da sie nicht die einzigen Liebenden waren, die nachts am Ufer der Newa spazieren gingen, schenkte ihnen niemand Beachtung. Eng umschlungen blieben sie immer wieder stehen, sahen einander verliebt an und küssten sich, bis Alena mit zitternder Stimme gestand: „Ich liebe dich so sehr, Kiryl. So sehr! Ich möchte heute Nacht in deinen Armen liegen. Ich will,
Weitere Kostenlose Bücher