Julia Extra Band 356 - Ebook
danke. Dann wird jeder erfahren, weshalb ich einen Rückzieher gemacht habe. Jeder wird wissen, wie tief ich erniedrigt worden bin. So denken sie alle einfach nur, ich hätte im letzten Moment kalte Füße bekommen.“
Ein bitteres Lachen arbeitete sich ihre Kehle empor. Kalte Füße – genau die hatte sie. „Was sogar der Wahrheit entspricht“, fügte sie an. „Soll Gavin das ruhig denken. Er wird nie genau wissen, ob ich ihn Stunden vor der Hochzeit mit heruntergelassener Hose erwischt habe oder nicht.“ Und würde nie die Genugtuung haben zu wissen, dass sie seine gemeinen Worte gehört hatte. „Das ist mir lieber. Außerdem kann ich meine eigenen Schlachten schlagen. Das mache ich schließlich schon lange genug.“
„Wieso? Was ist mit Ihrer Familie?“
„Ich habe keine. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, er verließ meine Mutter noch vor meiner Geburt. Wir waren immer nur zu zweit. Vor drei Jahren dann wurde bei ihr Krebs diagnostiziert. Letzten Sommer ist sie gestorben.“
Und nach dem Tod ihrer Mutter hatte Martha aus einer Laune heraus das Lotterielos gekauft, das ihr Leben verändert hatte. Hätte sie den Riesengewinn doch nur früher erhalten, dann hätte sie ihrer Mutter die letzten Monate vielleicht angenehmer machen können. Und wenn sie die letzten Jahre nicht so isoliert gelebt hätte, weil sie sich ausschließlich um ihre Mutter gekümmert hatte, dann wäre sie vielleicht nicht so naiv gewesen. Mit etwas mehr Lebenserfahrung hätte sie Gavins schmeichlerische Lügen vielleicht durchschaut.
„Das tut mir leid.“
Seine Worte waren gut gemeint, sein Ton mitfühlend, und dennoch verspannte Martha sich. Sollte er jetzt aus Mitgefühl auf sie zukommen und sie berühren, vielleicht sogar den Versuch machen, sie tröstend in die Arme zu ziehen, würde sie zerbrechen. Vermutlich würde sie sich nie wieder sammeln können.
Er musste ihre Stimmung gespürt haben, denn das Mitgefühl, vor dem sie sich fürchtete, zeigte sich nicht. Carlos schleuderte nur die letzte Haarnadel fort und richtete sich wieder auf, nachdem seine Aufgabe erfüllt war. Die Tiara baumelte an der einen Hand, mit der anderen Hand hielt er den Schleier. Er reichte ihr die Teile.
„Hier.“
Mit all den neuen, unbekannten Emotionen, die in ihr tobten, verlieh diese Geste ihr ein aufschäumendes Gefühl von Freiheit, so als hätte man ihr ein Joch von den Schultern genommen. Vor wenigen Stunden hatte sie den Tiefpunkt ihres Lebens erreicht, von nun an konnte es eigentlich nur noch bergauf gehen.
„Jetzt kann ich nach vorn schauen. Ich laufe also nicht mehr weg, sondern konzentriere mich auf die Zukunft. Vergesse den schrecklichen Fehler, den ich fast begangen hätte, fange neu an …“
Sie beugte sich vor, um den hingehaltenen Schleier anzunehmen. Erleichterung und Freiheitsgefühl beflügelten sie, und plötzlich stand sie auf Zehenspitzen und drückte impulsiv einen Kuss auf seine Wange. „Danke!“
Das war der Moment, in dem sich alles änderte. Die Welt schien still zu stehen, die neblige nasse Landschaft um sie herum verschwand, die Vögel in den Bäumen stellten ihr Zwitschern ein, der Wind setzte aus. Carlos’ Haut fühlte sich kühl und feucht an ihren Lippen an, sein herbes Aftershave schmeckte rauchig auf ihrer Zunge. Regungslos verharrte Martha, sah in seine Augen und konnte sehen, wie sie sich verdunkelten, wie die Pupillen sich weiteten, bis nur noch ein schmaler grüner Rand um glühendes Schwarz zu sehen war.
Sie wusste, was nun kommen würde. Wusste es und hieß es willkommen. Mit hämmerndem Herzen hielt sie den Atem an und wartete.
Lange brauchte sie nicht zu warten. Er schlang die Arme um sie, warm und stark, und zog sie an seine harte Brust. Beugte den Kopf und presste den Mund auf ihre Lippen, heiß und fordernd. Ein Seufzer entschlüpfte ihr, bevor sie die Lippen öffnete und sich der Macht dieses Kusses ergab.
Ein solches Gefühl hatte sie noch nie erfahren. Natürlich war sie schon geküsst worden, aber noch nie auf diese Art. Und noch nie hatte sie so auf einen Kuss reagiert. Heiße Lava brodelte durch ihre Adern, raubte ihr die Kontrolle, setzte ihre Sinne in Flammen, nahm ihr die Fähigkeit zu klarem Denken. Verglichen hiermit waren die Liebkosungen, die sie mit Gavin getauscht hatte, wie lauwarmes schales Wasser.
Alles in ihrem Kopf drehte sich, ihr Puls raste, ihr Herz hämmerte, als wollte es ihr aus der Brust springen. So sollte eine Frau fühlen, wenn sie einen Mann
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