Julia Extra Band 357
Bodenständigkeit, denn sie erzählte oft von der Zeit, in der sie noch ein ganz normales Leben geführt hatte.
Die Leiterin des Waisenhauses, eine ältere Frau, hieß ihn in der Eingangshalle willkommen und führte ihn sofort zu Ruby. Diese saß mit einem kleinen Mädchen auf dem Schoß im Aufenthaltsraum und las ihm langsam ein Bilderbuch in der Landessprache vor. Weitere Kinder hatten sich auf dem Fußboden um sie herum versammelt.
„Die Prinzessin kann sehr gut mit Kindern umgehen. Leider hat das kleine Mädchen auf ihrem Schoß eine etwas zu enge Beziehung zu ihr entwickelt“, sagte die Leiterin der Einrichtung leise zu ihm.
Raja verstand die Botschaft hinter ihren Worten sofort. Er beobachtete, wie die Kleine die Hand auf Rubys Wange legte und sie dann anstrahlte, während sie die andere Hand besitzergreifend in ihre Bluse krallte. Als seine Frau ihr Lächeln erwiderte, wurde ihm bewusst, wie sehr er sich gefreut hätte, wenn es ihm gegolten hätte. Als sie ihn im nächsten Moment bemerkte, sprang sie beinah schuldbewusst auf, die Arme schützend um das kleine Mädchen gelegt. Eine Mitarbeiterin ging zu ihr, um es entgegenzunehmen, und Ruby war sichtlich bestürzt, als es zu schluchzen begann.
„Raja …“, brachte Ruby hervor, denn sie war so verblüfft über Rajas Erscheinen, dass es ihr fast die Sprache verschlagen hatte.
In dem langen altweißen Kaftan, dem traditionellen arabischen Thawb , den er in letzter Zeit fast immer trug, sah er geradezu umwerfend aus. Die Farbe bildete einen faszinierenden Kontrast zu seiner gebräunten Haut und seinen dunklen Augen. Ihr Herz pochte schneller, und sie erstarrte, denn ihr war klar, dass sie hoffnungslos in ihren Mann verliebt war. Und das war einer der Gründe, warum sie ihn in letzter Zeit nach Möglichkeit mied.
„Ich habe Neuigkeiten für dich“, informierte er sie lässig. „Ich hatte keine Ahnung, dass du die meisten Abende hier verbringst, bis Wajid es mir gegenüber erwähnt hat.“
„Ich verbringe gern Zeit mit den Kindern. Die Atmosphäre ist locker, und hier kann ich abschalten“, erwiderte sie.
„Mrs Baldwin meinte, du hättest ein Kind besonders ins Herz geschlossen …“
„Ja, Leyla … Ich fühle mich sehr mit ihr verbunden“, gestand sie. „Und ich bin gern mit ihr zusammen. Sie ist süß und sehr intelligent.“
Sobald sie wieder in der Limousine saßen, fragte Ruby: „Und was hast du mir so Wichtiges mitzuteilen?“
„Es hat hier und in Najar einige Verhaftungen gegeben. Die Mitarbeiter am Königshof, die den Kidnappern die entscheidenden Hinweise gegeben haben, wurden überführt und festgenommen, genau wie ihre Anhänger.“
Sie war überrascht. „Und um welche Leute handelt es sich?“
„Um einen Berater aus dem Team meines Vaters und einen Privatsekretär aus Wajids Stab hier im Palast. Das Ganze ist Wajid sehr unangenehm. Sei bitte taktvoll, wenn er das Thema anspricht. Ihm ist natürlich bewusst, dass die Entführung ein tragisches Ende hätte nehmen können.“
„Uns ist doch nichts passiert“, erinnerte sie ihn schnell.
Raja presste die Lippen zusammen. Er wirkte ernst. „Ruby … Die Lage ist nach dem Krieg noch sehr angespannt. Die Kämpfe hätten wieder ausbrechen können. Unser Leben und das anderer Menschen war in Gefahr. Die Männer, die man angeheuert hatte, haben das Land verlassen und werden sicher nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden können. Aber auf die Drahtzieher wartet eine Gefängnisstrafe.“
„Verstehe.“ Die Gesetze waren in beiden Ländern scharf und sahen harte Strafen für Verbrecher vor. Dass sie nun in einem anderen Kulturkreis lebte, war ein Lernprozess, und sie musste ihre Ansichten in vielerei Hinsicht neu überdenken. Dennoch ärgerte es Ruby, dass sie noch so auf seine Deutung der Ereignisse angewiesen war.
Erst vor wenigen Wochen hatte sie erklärt, dass sie in der Politik ihres Geburtslandes mitbestimmen wolle. Inzwischen mutete es sie beinah naiv an, denn je länger sie im Palast lebte, desto deutlicher wurde ihr bewusst, wie viel sie noch lernen musste. Es gab unzählige rivalisierende Gruppierungen, und der Ältestenrat debattierte mehr, als dass er Entscheidungen traf. Raja verbrachte einen großen Teil seiner Zeit damit, schwierige Menschen zu beschwichtigen und sich mit den Investoren aus Najar zu treffen, die beim Aufbau von Ashur mitwirken wollten. Er hatte unzählige Verpflichtungen und einen langen Arbeitstag, weil er auch seine Regierungsgeschäfte von
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