Julia Extra Band 358
überschlugen sie sich förmlich im Versuch, ihm zu schmeicheln und zu gefallen.
„Sie haben die gleiche Schule besucht wie meine Halbschwester. Und soweit ich informiert bin, stand Mandarin dort nicht auf dem Stundenplan.“
Er wusste, dass sie mit Alena zur Schule gegangen war? Laura fiel ein, wie sie damals über ihre Tante unauffällig herauszufinden versuchte, wann Vasilii vorbeikam, um seine Schwester abzuholen. Dann positionierte sie sich an dem Fenster, von dem aus man den besten Blick auf das Eingangsportal hatte, und wartete mit klopfendem Herzen ab.
Nur davon konnte Vasilii unmöglich wissen. Auch nicht davon, wie sie sich mühsam einen verführerischen Gang angewöhnt hatte, in der Absicht, unauffällig an seinem Auto vorbeizuschlendern, während er auf Alena wartete. Allerdings hatte sie sich genau das nie wirklich getraut, und so war es bei den heimlichen Proben in geschlossenen Räumen geblieben.
Wahrscheinlich wusste er von der gemeinsamen Schulzeit, weil er Lauras Lebenslauf kannte. Und außerdem war ihre Tante damals ja Direktorin des Pensionats gewesen. Ihre Vermutung sollte sich im nächsten Moment bestätigen.
„Da Mandarin nicht auf dem Stundenplan stand, hat Ihre Tante Ihnen wohl kostspieligen Privatunterricht bezahlt?“
Er kann mich wirklich nicht ausstehen, stellte Laura fest. „Ich habe selbst dafür bezahlt“, informierte sie ihn kühl. „Das Geld dafür habe ich mir in den Pferdeställen verdient, in denen einige der Privatschüler ihre Tiere untergebracht hatten. Dafür konnten die morgens eine Stunde länger in ihren Betten liegen bleiben.“
Vasilii sah unwillkürlich vor seinem geistigen Auge, wie eine jüngere Ausgabe von Laura Westcotte sich mit roten Wangen, Pferdeschwanz und Arbeitsjacke aufs Fahrrad schwang und bei Wind und Wetter zu den Ställen radelte, um sich ihr mickriges Taschengeld aufzubessern. Sein eigener Vater hatte ebenfalls die Meinung vertreten, man müsse sich sein Geld von Anfang an selbst verdienen, und selbst seine reichlich verwöhnte Schwester Alena hatte ihre eigenen Aufgaben zugewiesen bekommen.
Es gefiel Vasilii nicht, dass er sich plötzlich Gedanken über die Gefühle anderer Leute machte. Unwirsch griff er nach einem Informationsblatt und reichte es Laura. „Ich möchte Sie bitten, mir das hier in Mandarin zu übersetzen“, sagte er und wartete ab, während sie einen Blick auf den Zettel warf.
Diese Aufgabe bereitete ihr keine Probleme, und sie fragte sich, warum ihre Hand und im Grunde ihr ganzer Körper zu zittern begannen. Konnte es daran liegen, dass Vasilii ihr gerade eben ziemlich nahe gekommen war?
Sie atmete durch, räusperte sich kurz und übersetzte dann recht flüssig die erste Seite des Informationstextes.
Vasilii war beeindruckt, und er musste zugeben, dass sein Privatsekretär trotz langjähriger Erfahrung für diesen Text länger gebraucht hätte.
„Wenn Sie jetzt bitte ins Russische übersetzen könnten?“
Laura nickte und überzeugte mit einer fehlerfreien Leistung. Nicht dass er weniger erwartet oder gar akzeptiert hätte!
„Gut, Ihre sprachlichen Fähigkeiten sind demnach … adäquat. Aber falls Sie wirklich etwas über die chinesische Mentalität wissen, dürfte Ihnen klar sein, dass für den Erfolg geschäftlicher Verhandlungen wesentlich mehr nötig ist als das Beherrschen der Landessprache.“
„Ja, natürlich“, stimmte Laura zu. „Selbst wenn Unternehmer denselben Dialekt sprechen, verhandeln sie im Kreise eigener Übersetzer und persönlicher Assistenten, weil es ihren jeweiligen Status erhöht. Auf diese Weise werden in China Geschäftstermine ausgeschmückt. Da mir bekannt ist, dass Sie selbst mehrsprachig sind, bin ich gleich davon ausgegangen, dass eine persönliche Assistentin für Sie in erster Linie eine repräsentative Funktion haben soll.“
„Korrekt“, erwiderte er und starrte sie aus seinen grauen Augen an.
Alles könnte einfacher sein, wenn ich nicht mal in ihn verliebt gewesen wäre, dachte Laura. Sogar mit Blicken schafft er es schon, mich einzuschüchtern.
Es dauerte eine ganze Weile, bevor Vasilii ihr die nächste Frage stellte. „Wie ich den Unterlagen entnehme, haben Sie Ihre letzte Stelle gekündigt, ohne den nächsten Job sicher in der Tasche zu haben. Ist das in der heutigen Zeit nicht etwas riskant?“
2. KAPITEL
Die Furcht vor der Wahrheit legte sich wie eine kalte Klammer um Lauras Herz.
Er konnte es nicht wissen, das war einfach nicht möglich. Sie nahm all ihren
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