Julia Extra Band 366
Ramon, schrieb seine Mutter, sei durch die Prüfungen gefallen. Und sie wollte von Santiago wissen, was er zu tun gedenke. Er blickte auf. „Du hast mir nicht erzählt, dass du dein zweites Jahr wiederholen musst.“ Woran im Grunde Santiago schuld war, wie seine Stiefmutter ihm zu verstehen gab, ohne es direkt zu sagen.
Vielleicht ist an dem Vorwurf etwas dran? grübelte er.
Wurde es Zeit, dass er hart durchgriff? Er wollte, dass sein Bruder die Freiheit genoss, die er selbst nach dem frühen Tod ihres Vaters nicht gehabt hatte. War er deshalb zu nachsichtig gewesen?
Ramon zuckte die Schultern. „Meeresbiologie ist nicht das, was ich erwartet hatte.“
„Archäologie war auch nicht das Richtige. Oder war es Ökologie?“
„Glaub mir, das hat wirklich nicht …“
„Du bist so intelligent. Ich verstehe einfach nicht, wie …“ Mühsam unterdrückte Santiago seine Wut. „Hast du überhaupt irgendwelche Vorlesungen besucht, Ramon?“
„Ein paar. Ja, ich weiß, aber ich werde mich dahinterklemmen, ehrlich. Lucy sagt …“
„Lucy?“ Er sah, was für ein Gesicht sein Bruder machte. „Die Göttin. Entschuldige, ich hatte es vergessen.“
„Eine gute Ausbildung kann einem niemand nehmen, sagt Lucy.“
Verwundert schüttelte Santiago den Kopf. Diese Lucy schien anders zu sein als die vielen Frauen, mit denen sich Ramon bisher eingelassen hatte. „Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen.“ Möglicherweise war eine anständige junge Frau, die eine gute Ausbildung wichtig fand, genau das, was sein Bruder brauchte.
Sein Urteil stand noch nicht fest. Santiago entschied sich, gegenüber Ramons neuer Freundin aufgeschlossen zu bleiben.
An ihrem ersten Tag auf der Finca war Harriets Auto nicht angesprungen. Kein Problem, hatte Lucy gesagt und war zu Fuß in die Kleinstadt gegangen. Es war dann doch ein Problem gewesen. Nicht die Entfernung, sondern die glühend heiße andalusische Mittagssonne.
Eine Woche später war das Auto noch immer im Hof aufgebockt und wartete auf das Ersatzteil, das der Mechaniker hatte bestellen müssen, und die Haut auf Lucys Nasenrücken schälte sich noch immer. Aber die schmerzhafte Röte war abgeklungen, und Lucy hatte ihren Pfirsichteint wieder.
Heute hatte sie Harriets vernünftigen Vorschlag, ein Taxi zu nehmen, abgelehnt. Sie lief gern, war jedoch viel früher losgegangen. Und so hatte sie alles auf Harriets Liste rechtzeitig eingekauft, um den Rückweg durch eine wirklich wunderschöne Landschaft zu genießen, solange es noch angenehm kühl war. Trotzdem hatte Lucy Lichtschutzfaktor dreißig aufgetragen und sich von Harriet einen Strohhut geliehen.
Es war erst halb elf, als Lucy den Steg über dem Bach erreichte, der die Grenze zu Harriets Finca bildete. Das einstöckige Haus war nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Die gut anderthalb Hektar Land hatten Harriet gereizt. Nach ihrer Pensionierung hatte sie beschlossen, ihren Traum zu verwirklichen und in Spanien ein Tierheim für Esel zu eröffnen.
Lucy hatte ihr gesagt, sie halte sie für sehr mutig. Ihre frühere Universitätstutorin hatte erwidert, sie folge nur dem Beispiel ihrer ehemaligen Lieblingsstudentin. Lucy, die es nicht gewohnt war, als Vorbild hingestellt zu werden, hatte nicht darauf hingewiesen, dass sie ihren Lebensstil eher notgedrungen geändert hatte.
Spontan ging sie neben dem Steg das Bachufer hinunter und zog die Sandalen aus. Zuerst fühlte sich das Wasser auf ihrer heißen Haut so kalt an, dass sie nach Atem rang. Dann tastete sie sich vor Freude lachend vorsichtig über die glatten Steine und watete hinaus.
Schließlich reichte ihr das Wasser bis an die Waden. Lucy nahm den Strohhut ab und hielt mit geschlossenen Augen das Gesicht in die Sonne. Herrlich!
Santiago trieb sein Pferd aus dem Schatten der Pinien, wo sie eine Pause gemacht hatten. Sein markantes Gesicht maskenhaft starr, ritt er auf den schnell fließenden Bach zu.
Jetzt wusste Santiago, warum ihm der Name bekannt vorgekommen war.
Die Verkleidung als aufreizender Engel war gut, aber so gut nun auch wieder nicht. Nicht bei einer Frau, für die galt: einmal gesehen, niemals vergessen. Und Lucy Fitzgerald war so eine Frau!
Auf dem Bild, das vor vier Jahren von den Medien immer wieder verwendet worden war, trug sie ein elegantes, figurbetontes rotes Kostüm und Stilettos. Aber Santiago hatte keinen Zweifel, dass es dieselbe Frau war, die von einer empörten Öffentlichkeit in Bausch und Bogen verurteilt worden war.
Sie hatte
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