Julia Extra Band 366
seit … Nein, natürlich nicht“, murmelte Lucy verlegen. Was für ein dummer Gedanke! Natürlich lebte Santiago Silva nicht wie ein Mönch!
Er lächelte belustigt. „Nein, ich habe kein Leben ohne Sex geführt. Ich hatte Geliebte, aber keine, die Dates oder Blumen von mir erwarteten.“
Wieder platzte sie mit dem Ersten heraus, das ihr in den Sinn kam. „Du schläfst doch nicht etwa mit …?“ Diesmal wurde sie knallrot.
Als Santiago begriff, worauf sie hinauswollte, war er nicht sicher, ob er beleidigt war oder sich über ihre Frage amüsierte. „Ich musste nie für Sex bezahlen, Lucy.“
„Ich sage ja nicht, dass du es tun müsstest. Offensichtlich kannst du jede haben, die du willst.“
Im Moment wollte er sie. Sofort.
„Mir fiel bloß gerade ein … Ich habe einmal einen Roman gelesen, in dem der Held nach dem Tod seiner Partnerin nur noch mit Prostituierten geschlafen hat, weil er meinte, dass er so seiner Erinnerung an sie nicht untreu wird. Ich rede zu viel, stimmt’s?“
Santiago dachte an die teuren Abschiedsgeschenke, die er am Ende einer Beziehung von seiner Sekretärin hatte hübsch einpacken lassen. Geschenke, die bisher immer geschätzt worden waren, auch wenn die Empfängerinnen, erfolgreiche Frauen, sich sehr wohl selbst Juwelen hätten kaufen können.
War etwas dran an dem, was Lucy sagte?
„Ich suche keine feste Beziehung.“
Ihre Augen weiteten sich. „Nein, natürlich nicht. Ich habe nie angenommen, dass … du … ich … dass dies …“
„Komm her, ich zeige dir, was ich meine.“
Santiagos Augen funkelten vor Leidenschaft, und Lucy hörte erleichtert auf zu reden. „Ja, bitte!“
Eine Woche später hatten sie kein einziges Mal ihre Terminkalender verglichen, aber viel Sex gehabt. Und nun hatte Lucy zum ersten Mal im Schloss übernachtet. Nicht, weil Santiago sie darum gebeten hatte, sondern weil sie eingeschlafen und erst um fünf Uhr morgens wieder aufgewacht war.
Santiagos Argument dafür, noch im Bett zu bleiben, war sehr überzeugend gewesen. Zu widerstehen hatte sie ihre ganze Willenskraft gekostet, doch sie hatte es geschafft. Er hatte ganz und gar nicht glücklich ausgesehen, als sie sich angezogen, ihm hastig einen Kuss auf die Wange gedrückt hatte und in aller Eile zur Finca zurückgekehrt war.
Warum hatte sie sich auf Zehenspitzen ins Haus geschlichen, damit Harriet nicht erfuhr, dass sie die Nacht bei Santiago verbracht hatte? Es war ja nicht so, dass sie sich schämte. Und die ältere Frau war nicht prüde. Außerdem war ihr bestimmt schon zu Ohren gekommen, dass etwas vorging. Ganz gleich, wie diskret man war, in einer kleinen Gemeinde wie dieser gab es keine Geheimnisse.
Von sich aus hatte ihre Freundin das Thema nicht angeschnitten. Vielleicht wartet sie darauf, dass ich es tue? fragte sich Lucy, als sie über den Hof ging. Doch was sollte sie sagen? Santiago und sie hatten keine Beziehung, sie konnte nicht von ihm erzählen und „wir“ sagen. Sie waren kein Paar.
Als sie den schattigen und kühlen Stall betrat, hörte sie den Klagelaut und lief zur Box ganz am Ende. Ein sechster Sinn hatte sie am Vorabend veranlasst, die trächtige Eselin von der Weide zu holen. Und offensichtlich lag sie vorzeitig in den Wehen. Selbst als Laie erkannte Lucy, dass die Geburt nicht gut verlief.
Lucy sank neben der Eselin auf die Knie und sprach ruhig mit ihr, bevor sie ins Haus rannte, um den Tierarzt anzurufen. Bei dem, was sie von der Ehefrau erfuhr, blieb Lucy nur mit Mühe ruhig.
„Wann erwarten Sie ihn denn zurück?“ Die Antwort darauf war so vage, dass Lucy die Situation noch einmal erklärte, darum bat, dass der Tierarzt so bald wie möglich zur Finca kam, und frustriert auflegte. Wenn Harriet hier wäre … Aber ein Nachbar hatte sie zur Physiotherapie gefahren; sie würde frühestens in einer Stunde zurück sein.
Eine Stunde könnte zu lange sein. Ohne zu registrieren, was sie da eigentlich tat, hatte Lucy Santiagos Handynummer eingetippt.
„Ich weiß nicht, warum ich dich anrufe. Du bist sicher sehr beschäftigt und …“
Die Freude, die Santiago beim Klang ihrer Stimme empfand, wurde schnell von Sorge verdrängt, als er die Panik aus ihren Sätzen heraushörte. „Ich bin nicht beschäftigt.“ Er blickte aus dem Fenster auf den Hubschrauber. In diesem Moment stiegen Gestalten in Anzügen aus, die von Weitem wie dunkle Farbkleckse aussahen. Santiago hatte die Geschäftsleute für das Meeting einfliegen lassen, das er schon zweimal abgesagt
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