Julia Extra Band 366
Mulville. Es kamen SMS und E-Mails. Keine offenen Drohungen, nur Andeutungen. Alles war sehr subtil. Nicht schön das Ganze.“
Santiago fluchte leise. Nicht schön. Ein klassisches Beispiel für britische Untertreibung. Aber er war kein Brite, und er hatte ohne Wenn und Aber eine mörderische Wut im Bauch.
„Das war Stalking“, sagte er ausdruckslos. „Wie konnte man eine einstweilige Verfügung gegen dich erwirken?“ Die Welt hatte Lucy verurteilt, und er war auf den fahrenden Zug aufgesprungen. Er war einfach davon ausgegangen, dass sie schuldig war. Voller Selbstverachtung dachte er an all das, was er zu ihr gesagt hatte.
„Damit hat er sich am Ende gerächt. Ich wollte nicht mit ihm schlafen, also hat er eine Affäre erfunden und sich seinen Freunden anvertraut. Tatsächlich schien jedermann außer mir davon zu wissen. Als er dann später behauptet hat, ich würde ihn erpressen, hat man ihm geglaubt. Seine Identität wurde nicht preisgegeben, aber mein Name stand in allen Zeitungen. Und ich durfte kein Wort sagen. Es war ein hundertprozentiger Maulkorberlass. Ganz gleich, was die Journalisten schrieben, ich konnte mich nicht dagegen wehren.“ Lucy rollte sich auf den Rücken und drückte sich ein Kissen an die Brust, als würde es sie vor den Erinnerungen schützen können.
Während Santiago ihr zuhörte, war seine Kehle wie zugeschnürt vor Empörung. Warum wirkte Lucy so gelassen? Wieso war sie nicht verbittert nach dem, was ihr passiert war? „Der Mann ist ein …“
Santiago gebrauchte ein Schimpfwort, das nicht zu Lucys Wortschatz gehörte und das vermutlich auch in den meisten Wörterbüchern nicht zu finden war.
„Aber als die einstweilige Verfügung aufgehoben wurde, hättest du doch reden können?“ Dieser Aspekt stellte ihn vor ein Rätsel. Warum hatte Lucy den Mistkerl nicht fertiggemacht, sobald sie die Gelegenheit hatte, ihn öffentlich bloßzustellen?
„Oh, sicher, ich hätte ein Vermögen mit meiner Story verdienen können.“ Sie hatte Angebote erhalten. Ihr spöttisches Lächeln erstarb. „Was für einen Sinn hätte es gehabt, das Ganze wieder aufzurollen?“
Ein dumpfer Schmerz pochte in seinen Schläfen, während sich Santiago ausmalte, was Lucy durchgemacht hatte. Wieder schämte er sich dafür, dass er sie verurteilt hatte. Wie viele andere Leute hatten dasselbe getan?
„Alle Menschen, die mir wichtig waren, wussten sowieso schon, dass ich mir nichts hatte zuschulden kommen lassen. Meine Angehörigen waren großartig. Sie haben zu mir gestanden. Dad und ich hatten seit drei Jahren nicht mehr miteinander gesprochen, aber als …“
„Du hattest keinen Kontakt zu deinem Vater? Ich dachte, die Fitzgeralds halten zusammen.“
„Tun wir. Wir haben trotzdem unsere Auseinandersetzungen. Dad hatte Pläne für mich; ich wollte etwas anderes. Bei ihm gab es nur einen einzigen Weg, und das war seiner, also …“
„Er hat dich hinausgeworfen?“ Santiago runzelte die Stirn. Er konnte sich keine Situation vorstellen, in der er seiner Tochter ein Ultimatum stellte, durch das er Gefahr lief, sie zu verlieren.
Lucy nickte. „Deshalb habe ich als Model gearbeitet. Mein Vater hat meine Geschwister und mich dazu erzogen, selbstständig und stark zu sein. Seine Methode, uns das Schwimmen beizubringen, fasst seine Einstellung zur Kindererziehung in etwa zusammen.“
Zwar kannte Santiago den Ruf des Mannes, aber das … „Er hat euch doch nicht allen Ernstes …?“
„Doch, Dad hat uns in den Swimmingpool geworfen, und wir sind entweder untergegangen oder geschwommen.“ Weil Santiago schockiert aussah, zerstreute Lucy schnell den Eindruck, dass ihr Vater ein Monster gewesen sei. „Nicht, dass er uns tatsächlich hätte ertrinken lassen. Wenn nötig, hat er uns eine Rettungsleine zugeworfen.“
„War es bei dir nötig?“ Santiago stellte sich Lucy als Kind vor, wie sie versuchte, ihren Vater zufriedenzustellen und mit ihren älteren Geschwistern Schritt zu halten.
„Nein, ich habe es so lala an den Beckenrand geschafft.“
„Und was einen nicht umbringt, macht einen stark?“, griff Santiago ihre Worte auf.
Lucy verzog das Gesicht; dann lachte sie.
„Dich scheint es auf jeden Fall furchtlos gemacht zu haben.“
Sie hörte die Bewunderung aus seiner Stimme heraus. „Ich bekomme es schon manchmal mit der Angst zu tun“, gab sie zu.
„Wann hattest du Angst?“
„Gerade eben. Davor, eine Katastrophe im Bett zu sein.“
Santiago streichelte ihr mit dem Zeigefinger
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