Julia Extra Band 366
mochte sich ja schämen, mit ihr zusammen in der Öffentlichkeit gesehen zu werden, doch sie würde sich nicht länger verstecken! Niemand konnte sie mehr verletzen als er! Dass sie sich selbst einer solchen Kränkung ausgesetzt hatte, ließ es nicht weniger wehtun.
Erst einmal brauchte sie einen Kaffee, dann würde ihr die Welt schon ein bisschen freundlicher vorkommen. Wie viel Verspätung durfte der Flug haben, damit sie noch rechtzeitig zur Trauung kam? Anderthalb Stunden, höchstens zwei. Lucy wusste, dass sie zu Hause anrufen und Bescheid geben sollte, dass sie vielleicht nicht pünktlich war, doch noch wollte sie sich ihre Niederlage nicht eingestehen.
Sie war nur noch wenige Schritte vom Café entfernt, als sie die beiden sah. Die Frau trug ein elegantes Kostüm und eine Perlenkette, dennoch galt Lucys Aufmerksamkeit einzig und allein dem Mann: Er war untersetzt, hatte graues, schütteres Haar und trug einen zweireihigen Anzug mit Weste.
Der Anblick löste einen solchen Schock bei ihr aus, dass ihre Füße wie festgenagelt waren. Lucy stand da, zitterte am ganzen Körper und hatte Angst, in Ohnmacht zu fallen. Lauf weg! riet ihr eine innere Stimme.
Doch Lucy konnte nicht. Die Frau, Barbara, entdeckte sie zuerst. Lucy hatte sich immer über sie gewundert. Kannte sie den wahren Charakter des Mannes denn nicht, mit dem sie zusammenlebte? Ignorierte sie dessen Unzulänglichkeiten einfach?
Sichtlich aufgeregt sagte Barbara etwas zu ihrem Mann und zeigte mit dem Finger auf Lucy. Dann kamen sie auf sie zu. Barbara blieb ein Stück hinter ihrem Mann zurück, vielleicht weil sie sich vor der Auseinandersetzung fürchtete.
Urplötzlich war Lucy nicht mehr nervös. Auch schämte sie sich nicht. Doch sie zitterte noch immer – jetzt allerdings vor Wut. Sie hatte sich von diesem Mann Jahre ihres Lebens stehlen lassen. Damit war Schluss! Sie ergriff die Initiative und ging zielstrebig auf das Ehepaar zu.
Für Panik hatte Santiago eigentlich nichts übrig. Doch als er aus seinem Arbeitszimmer kam und feststellte, dass Lucy weg war, drehte er fast durch. Eigentlich hätte es ihn nicht erstaunen dürfen: kein Wort, keine Nachricht, nichts. Sie war einfach verschwunden.
Fünfzehn Minuten, hatte er gesagt. War das zu viel verlangt gewesen? Seine anfängliche Panik wich schnell einer schwelenden Wut. Er hatte in den fünfzehn Minuten ein sehr wichtiges Meeting verlegt, zu dem Banker aus aller Welt hatten anreisen wollen. Er lief Gefahr, Geschäftspartner nachhaltig zu verärgern, indem er das Treffen absagte.
Trotzdem hatte er es getan.
Und warum? Weil er erkannt hatte, dass seine Beziehung zu Lucy an einem Wendepunkt stand. Sie wollte, dass er ihre Familie kennenlernte. Er wusste, was das bedeutete. Doch das erste Mal in seinem Leben hatte er nicht das Bedürfnis gehabt, davonzulaufen, sondern war willens gewesen, sie zu begleiten.
Da Lucy nun weg war, drängte sich eine entscheidende Frage auf: Konnte er ertragen, Lucy für immer zu verlieren? Noch nie hatte ihn etwas so erschreckt wie der Gedanke an ein Leben ohne Lucy.
Plötzlich hatte er keine Angst mehr vor der Liebe! Endlich hatte er seine Dämonen bezwungen. Nur hatte die Frau, die ihn von der Angst befreit hatte, nicht auf ihn gewartet.
Wollte sie ihn ärgern? Welchen anderen Schluss sollte er ziehen – vor allem, weil sie sich für die Fahrt zum Flughafen einfach ein Auto aus der Garage genommen hatte. Hatte sie vor, das Fass zum Überlaufen zu bringen?
Außerdem ließ ihre Wahl ihn nicht kalt. Ausgerechnet den neuen PS-starken Sportwagen, um den er seine Sammlung bereichert hatte, hatte sie sich genommen. Santiago hatte Lucy gesagt, das dies kein Auto für eine Frau sei. Daraufhin hatte sie ihm eine Standpauke zum Thema „Alles, was du kannst, kann ich viel besser“ gehalten, die er mit Humor ertragen hatte. Weil, wie er Lucy gegenüber zugegeben hatte, sie wahrscheinlich recht hatte.
Trotzdem lag es ihm fern, Lucy in ihr Unglück rennen zu lassen. Kam sie wirklich mit dem Wagen zurecht?
Auf dem Weg zum Flughafen rechnete Santiago in jeder Haarnadelkurve damit, dass er auf Reste seines Autos stoßen würde. Doch dem war nicht so, also war Lucy wahrscheinlich nichts passiert. Das kann sich ändern, wenn ich dich erwische, dachte er grimmig.
Am Flughafen stellte sich heraus, dass auch sein Sportwagen die Fahrt heil überstanden hatte. Dass er gerade abgeschleppt wurde, war natürlich nicht so schön. Zum ersten Mal, seit Santiago die Verfolgung
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