Julia Extra Band 371
heute dem Volk vorstellen werde. Wenn mein Vater es nicht anders haben will, heiraten wir eben erst, wenn ich das Land regiere.“
Natasha hatte den König bisher nicht kennengelernt, hatte die anderen nur voller Ehrfurcht von seiner Größe und seiner Macht reden gehört. Aber heute kam niemand Rakhals Macht und Größe gleich. Seine Augen waren schwarz wie die Nacht, seine Haltung fest und unnachgiebig, und für jeden war deutlich, dass er nicht von seiner Entscheidung abweichen würde.
„Ich habe ihm gesagt, dass wir nicht nur von den alten Weisheiten, sondern auch aus unseren Fehlern lernen müssen – aus seinen Fehlern und aus seinem Bedauern, dass er meine Mutter nicht an seiner Seite haben konnte.“
Hinter ihm liefen Abdul die Tränen übers Gesicht.
„Jahrelang hat er um sie getrauert, dabei hätte er mit ihr zusammensein können. Sie hat sich nicht nach der Wüste verzehrt, sondern nach ihm.“
Rakhal schloss für einen Moment die Augen und sog tief die Luft ein. Natasha konnte sich vorstellen, wie schwer es ihm gefallen war, seinem Vater das zu sagen, und wie schwer es dem König gefallen sein musste, es sich aus dem Mund seines Sohnes anzuhören.
„Ich habe aus seinen Fehlern gelernt, deshalb habe ich beschlossen, die Dinge anders zu machen. Sonst …“ Er sah seine Braut an, konnte jedoch nicht weitersprechen.
Natasha antwortete dennoch. „Du würdest niemals deinem Volk den Rücken kehren.“
„Natürlich nicht. Das Volk vertraut mir, die richtige Entscheidung zu treffen. Die Menschen werden sich nicht von mir abwenden.“
Doch ein Muskel zuckte in seiner Wange, als er das sagte, und Natasha war da keineswegs so sicher.
„Wir müssen uns jetzt dem Volk zeigen“, sagte er nur.
Sie stiegen die breite Treppe hinan. Draußen auf den Straßen erschallten schon die Jubelrufe, alle warteten darauf, dass der Prinz sich endlich seinem Volk zeigen würde. Ein letztes Mal legten die Dienerinnen Hand an, nahmen Natasha den Umhang ab, richteten ihr Haar. Sie war schrecklich nervös und sah zu Rakhal, dem jetzt die goldene Schärpe umgelegt wurde. Er stand groß und aufrecht da, bereit, sich dem Urteil seines Volkes zu stellen.
„Wie immer ihre Reaktion ausfällt“, sagte er zu Natasha, „sei versichert, dass ich stolz bin.“
Sie konnte ihm das nicht antun, auch nicht dem Volk und nicht dem König … Doch er verstummte ihre Proteste und gab den Befehl, die Balkontüren zu öffnen. Dann nahm er sie bei der Hand und trat zusammen mit ihr auf den Balkon.
Der Jubel wurde ohrenbetäubend – ebenso wie die jäh einsetzende Stille. Dann ging ein verwundertes Raunen durch die Menge, als den Menschen klar wurde, dass die Braut des Prinzen an seiner Seite stand. Der Wind spielte mit ihren Haaren, und Rakhal drückte ihre Hand fester.
Als hinter ihnen plötzlich ein Husten ertönte, drehte Natasha sich um, und zum ersten Mal sah sie sich dem König gegenüber – eine ältere, ausgezehrte Version von Rakhal. Dem alten Mann stand der Schmerz und das Bedauern eines halben Lebens im hageren Gesicht eingegraben, und ihr Herz flog ihm sofort zu, vor allem, als er die verschränkten Hände von Rakhal und ihr nahm und sie vor dem Volk in die Höhe streckte. Applaus und Jubel wurden wieder laut, denn der König hatte der Wahl seines Sohnes seinen Segen gegeben.
Wenige Tage später wurde Natasha, ganz in Gold gekleidet wie an jenem ersten Abend, als sie und Rakhal einander gefunden hatten, zum König geführt. Sie knickste vor Rakhals Vater und lächelte ihrem stolzen Bruder zu.
Die Trauungszeremonie fand im Garten des Palastes statt, dann wurde das Brautpaar durch die Straßen gefahren, und das Volk jubelte und überhäufte das Paar mit seinen Glückwünschen, denn schon immer hatte eine Traurigkeit in den Augen des Kronprinzen gelegen, die jetzt endlich verschwunden war. Das Volk hatte um seine Mutter getrauert und mit ansehen müssen, wie das Strahlen in den Augen des Königs erloschen war. Jetzt war die Liebe nach Alzirz zurückgekehrt, und alle freuten sich darüber.
Freuten sich über die Liebe, die der Kronprinz mit seiner Braut gefunden hatte.
„Hast du Angst davor, König zu werden?“, fragte Natasha ihren Ehemann leise, als sie spät am Abend nebeneinander in ihrem wunderschönen Zelt in der Wüste lagen.
„Ich habe niemals Angst vor etwas.“
In der Erinnerung an ihren ersten Abend in London mussten beide lächeln. Dann blickten sie gemeinsam durch das offene Zeltdach hoch zu den
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