Julia Extra Band 373
dass die Regeln aufgehoben werden? Die Zeiten haben sich geändert …“
„Damals, als Rakhals Mutter starb und es aussah, als würde auch das Baby nicht überleben, kam der König von Alzirz zu meinem Vater mit der gleichen Bitte.“ Er zuckte mit den breiten Schultern. „Mein Vater lehnte ab. Er wollte, dass die beiden Länder wieder eines werden.“
„Du hast also schon darüber nachgedacht?“
Er sah sie an und teilte zum ersten Mal etwas von seinen Gedanken mit einem anderen Menschen. „Ich habe mehr getan, als nur darüber nachzudenken. Ich ging zu Rakhal, als Hannah krank wurde. Seine Antwort war die, die zu erwarten war.“ Er schüttelte den Kopf, als er sich an das Gespräch erinnerte, sah noch immer das hämische Grinsen um Rakhals Lippen zucken. Wie sehr der Rivale es genossen hatte, den stolzen König betteln zu sehen.
Emir blickte in Amys blaue Augen, und die Kälte in ihm ließ ein wenig nach. „Ich habe über vieles nachgedacht“, fuhr er fort. „Ich versuche, nicht nur für mein Land die beste Entscheidung zu treffen, sondern auch für meine Töchter.“ Jäh wurde ihm klar, dass er schon zu viel gesagt hatte. Niemand sollte alles wissen. Doch vielleicht lag es daran, dass sie in der Wüste waren und draußen der Wind heulte und Schatten auf den Zeltwänden tanzten … er wollte es ihr sagen, wollte seine Gedanken mit ihr teilen. Nur konnte er es nicht.
„Ich werde einen Sohn zeugen.“ Was bedeutete, dass sie nicht seine Braut sein konnte. „Heirat hat eine andere Bedeutung für mich. Ich entschuldige mich, dass ich dich verletzt habe. Das war nie meine Absicht.“
„Ich nehme es auch nicht persönlich …“ Beim letzten Wort brach ihre Stimme. Es war sogar sehr persönlich. So persönlich, dass sie in der Abgeschiedenheit ihres Abteils mit dem Schmerz umgehen musste. Nur allein würde sie ihren neuerlichen Verlust beklagen können. „Gute Nacht, Emir.“
„Amy …“
Noch einmal blieb sie stehen.
„Der Wind heult stark heute Nacht. Er weiß, dass du nicht mit der Wüste vertraut bist. Er wird versuchen, dich zu narren.“
„Du redest vom Wind, als wäre er eine Person.“
„Manche behaupten, es seien Seelen.“ Er sah, wie sie es sofort abtat. „Lass dich nicht verängstigen“, sagte er dennoch.
Sie war nicht verängstigt – zumindest anfangs nicht.
Amy lag auf ihrer Bettstatt und starrte an die Zeltdecke, die sich mit dem Wind bauschte und wieder in sich zusammenfiel. Die Mädchen fehlten ihr – und sie trauerte um das, was hätte sein können.
Emir war bereit gewesen, sie zu heiraten.
Das Wissen half. Doch zu wissen, dass er es nicht konnte, brachte sie schier um.
Amy kämpfte gegen die Tränen, auch wenn Emir ihr Schluchzen nicht würde hören können, weil der Wind so laut war. Die flackernden Kerzen ließen die Schatten über die sich bauschenden Zeltwände tanzen, erweckten den Eindruck, als würde der Raum sich bewegen. Amy schloss die Augen, wollte den Schlaf herbeizwingen, doch der Wind heulte immer schriller, und manchmal klang es, als würde ein Baby weinen. Dann wieder hörte es sich wie das Stöhnen einer Frau an. Diese Schreie hatten den Palast erfüllt in der Nacht, als die Zwillinge geboren wurden. Amy wusste, dass es nur der Wind war, der seine Streiche spielte, und doch konnte sie es nicht länger ertragen.
Vielleicht hatte das Stöhnen des Windes auch Emir wach gehalten, denn als sie die Augen öffnete, stand er vor ihr. Er trug seine Robe und hatte sein Schwert umgebunden, nur seine kufiya saß nicht mehr auf seinem Kopf. Er stand reglos da wie ein Schatten der Nacht.
„Als du mich geküsst hast, sagtest du ‚bitte‘. Was hattest du erwartet?“, fragte er sie leise.
„Ich dachte, dass mir Sex angeboten wurde.“ Sie war zu verletzt, um darauf zu achten, ob sie sich grob ausdrückte.
„So halten wir es bei uns nicht. In Alzirz ist die Moral lockerer, dort gibt es Harems und …“ Er schüttelte den Kopf. „Das ist nicht das, was ich für dich gewollt hatte.“
Nicht zum ersten Mal, dieses Mal jedoch aus beschämenden Gründen, wünschte Amy sich, sie wäre in Alzirz, wünschte, Emir wäre der König des anderen Landes. „Ich habe keinen Moment geglaubt, ich könnte als deine Braut in die Wahl kommen. Als wir einander küssten und berührten …“ Sie schluckte, schaffte es endlich, ihm in die Augen zu sehen. „… da habe ich weder an die Zukunft der Zwillinge gedacht noch an Lösungen für Probleme. Ich dachte nur daran,
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