Julia Extra Band 373
gewesen. Sie war von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht worden – konfrontiert mit der Idylle der Kleinfamilie und dem Haus mit Doppelgarage. Doch je weiter sie fuhr, desto mehr wurde das Gefühl, Außenseiter zu sein, erst durch Nostalgie ersetzt und dann … dann durch Wärme. Der Schnee wirkte wie Puderzucker auf Whistle Creeks Straßen und Dächern, ließ enge Gassen freundlich und willkommen heißend erscheinen. Girlanden hingen zwischen den Laternen, Weihnachtskränze schmückten Haus- und Ladentüren. Lichterketten waren um die kahlen Baumzweige geschlungen worden, die kleinen Lichter funkelten im Dunkeln. Jedes Schaufenster wünschte den Passanten „Frohe Weihnachten“ in großen roten Lettern oder „Geruhsame Feiertage“ in geschwungener goldener Schrift.
„Wie schön“, wisperte sie.
Nur ein Fenster war hell erleuchtet, und es zog sie magisch an – Cindys Diner. Natürlich. Marietta lächelte vor sich hin. Sie stellte den Wagen an der Straße ab und stieg aus, blickte durch das große Fenster. Der Diner war wohl geöffnet, aber leer. Sie fragte sich, ob sie vielleicht …
Da kam Cindy aus der Küche und sah Marietta vor der Scheibe stehen. Vor Überraschung blieb ihr der Mund offen, sie fasste sich an den grauen Knoten, fuhr sich mit der Hand übers Gesicht … und setzte sich erstaunlich behände in Bewegung. Sie riss die Tür auf und zog Marietta in eine überschwängliche Umarmung, hielt sie fest an sich gedrückt und ließ damit all die Jahre schmelzen.
„Du bist nach Hause gekommen!“
In der Umarmung einer Freundin, die einer Großmutter so nahe kam, wie es nur möglich war, fühlte Marietta sich tatsächlich willkommen. „Ich wollte nur mal vorbeischauen.“
„Dann komm herein und erzähl mir alles bei einem Kaffee und einem Stück Kuchen.“ Cindy zog sie mit in den Laden und drückte sie auf einen Barhocker vor der Theke. Innerhalb von Sekunden standen ein Stück Schokoladentorte und ein dampfender Becher Kaffee vor Marietta. „Ich wollte gerade abschließen und nach Hause gehen, und was sehe ich? Ein bekanntes Gesicht aus der Vergangenheit. Es wurde auch längst Zeit, dass du dich mal wieder blicken lässt. Was bringt dich zu uns?“
Marietta überlegte, ob sie lügen sollte. Doch Lügen hatten noch nie etwas Gutes bewirkt, und wenn einer es verstehen würde, dann Cindy. „Reed“, antwortete sie. „Ich bin ihm heute zufällig begegnet.“
„Reed? Hartstone? Wo?“
„Ausgerechnet in Chicago. Wegen eines Schneesturms saßen wir zusammen auf dem Flughafen fest.“
„Der Mann ist ja auch wirklich attraktiv, nicht wahr? Wäre ich vierzig Jahre jünger …“ Cindy grinste. „Er ist noch immer frei. Sagt zumindest seine Mutter.“
Marietta schob sich ein Stück Torte in den Mund. „Mmh … köstlich. Du bist die beste Köchin in ganz Whistle Creek.“
„Versuch nicht, mit plumpen Komplimenten vom Thema abzulenken.“ Cindy lachte leise. „Auch wenn ich das Kompliment gern annehme.“ Sie stützte sich auf den Tresen „Jetzt erzähl mir alles von Reed und warum du seinetwegen herkommst. Ich hätte gedacht, dich könnten keine zehn Pferde mehr herbringen.“
„Die habe ich verschlissen, als ich von hier weggeritten bin.“ Marietta schob den Teller zurück. Es wurde höchste Zeit, dass sie sich dem stellte, was sie hier zurückgelassen hatte, wenn sie je darüber hinwegkommen wollte. „Nach dem Tod meiner Mutter dachte ich, dass ich besser dran bin, wenn ich weggehe. Dass ich woanders glücklicher leben kann.“
„Oh, Liebes, ich weiß, du hattest es schwer hier. Du bist ständig hin- und hergeschoben worden, hast ja praktisch aus dem Koffer gelebt.“ Cindy drückte Mariettas Finger. „Und? Bist du woanders glücklich geworden?“
„Ich dachte, ich wäre es. Bis ich Reed traf.“
„Ein Mann kann so etwas bewirken – wenn man ihn liebt.“ Fragend suchte Cindy in Mariettas Gesicht. „Liebst du ihn?“
„Ich weiß es nicht. Ich meine, es könnte einfach nur Weihnachtsmelancholie sein oder zu wenig Schlaf oder …“
„Oder Liebe“, ergänzte Cindy. „Gib’s zu, Kleines, du liebst den Mann, seit du ihn zum ersten Mal gesehen hast. Du hast es schwer gehabt, aber das heißt nicht, dass du nicht das gleiche Happy End wie Aschenbrödel bekommen kannst. Ich meine, wenn du es willst.“
Marietta seufzte. „Das ist ja das Problem. Ich weiß nicht, was ich will. Gestern noch hatte ich mein Leben genau geplant. Heute laufe ich Reed über den Weg,
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