Julia Extra Band 373
konnte. Für die anderen Kinder war Marietta immer die „Komische“ gewesen, die, deren Eltern nie zu Schulaufführungen kamen, deren Mutter nie bei den Ausflügen mithalf. Also war Reed zu ihrem Freund und Beschützer geworden, vom ersten Tag an. Kein Wunder, dass sie sich auf ihn verlassen hatte, sich an ihn geklammert hatte. An die solide, hart arbeitende Familie. An die einfache Hütte im Wald.
„Deshalb wolltest du immer hierherkommen.“
Ihr Blick ging zum Haus, und ein sanftes Lächeln zog auf ihre Lippen. „Hier habe ich mich sicher gefühlt“, flüsterte sie. „Zusammen mit dir.“
„Und für mich war es immer wie Urlaub von der Farm, von all der Arbeit, die mein Vater mir auftrug.“ Er schaute sie an, sah sie vor Kälte zittern. „Komm, gehen wir hinein und wärmen uns auf.“
Er legte ihr den Arm um die Schultern, zusammen gingen sie in die Hütte. Klopften sich den Schnee von den Schuhen, hängten ihre Mäntel an die Haken und wärmten sich am Feuer. Reed breitete eine Decke auf dem Boden vor dem Kamin aus und legte sich zusammen mit Marietta darauf. Wenn er die Augen schloss, konnte er sich vormachen, dass sie in der Zeit zurückgegangen waren. Er wünschte, sie bräuchten nicht darüber zu reden, weshalb Marietta wirklich wieder zurückgekommen war.
„Hierherzukommen war immer wie eine Flucht“, sagte sie und seufzte dann. „Genau das war das Problem.“
Er stützte sich auf einen Ellbogen und sah auf ihr Gesicht, auf dem die goldenen und roten Schatten des Feuers tanzten. „Wieso Problem?“
„Weil es mich davon abhielt, mich der Realität zu stellen. Ich war immer auf der Flucht. Ich habe nie Bindungen geknüpft, weil ich ja schon nächste Woche oder nächsten Monat wieder zu meiner Mutter zurückgehen würde.“
„Aber sie hat dich im Stich gelassen.“
Marietta nickte. „Ich habe mich so bemüht, dass wir eine Familie bleiben – trotz allem … Doch nach dem Unfall tat ich das, was ich am besten konnte – ich floh. Auch vor dir. Da auf dem Flughafen … all die alten Gefühle kehrten zurück. Ich bekam es mit der Angst zu tun.“
„Also bist du weggelaufen.“
Sie nickte. „Ich kann das ‚Was wäre, wenn‘-Spiel nicht spielen, Reed.“ Sie musste auch diese letzte Kluft zwischen ihnen aufreißen. Wenn sie jetzt wieder rannte, würde sie ihr ganzes Leben auf der Flucht sein. „Denn das sind die Dinge, die ich immer haben wollte. Und jedes Mal, wenn ich glaubte, ich hätte sie, wurden sie mir genommen. Ich würde es nicht ertragen, den Traum wieder zu träumen, nur um dann herauszufinden, dass alles nur Illusion war.“
Sie wandte den Blick von ihm ab, wollte ihre größte Angst nicht in seiner Miene bestätigt sehen – Zweifel. Denn Zweifel lebten auch noch immer in ihr – dass sie nicht für dieses Leben gemacht war, ganz gleich, wie sehr sie es sich wünschte. „Ich gehöre nicht hierher, Reed. Ich gehöre nirgendwohin.“
„Ich dachte, du wärst glücklich in Chicago.“
„Ich arbeite dort, aber ich lebe nicht dort. Ich fliege um die ganze Welt, und dann ziehe ich mich in ein kleines Studio zurück und entwerfe Kleider für Frauen, die an das Glücklich-bis-ans-Lebensende glauben.“ Tränen brannten in ihren Augen, aber sie musste sagen, was sie zu sagen hatte. Und dann musste sie ihn gehen lassen, damit er eine Frau fand, die ihm all das geben konnte, was er sich wünschte. Er hatte es verdient … eine Frau, eine Familie. Wenn sie die letzten Bindungen ein für alle Mal abbrach, würden sie beide vielleicht endlich weitermachen können. „Ich wollte dir danken.“
„Wofür?“
„Für den Einblick in den Traum, den du mir gewährt hast.“
Er legte die Hand an ihre Wange, und sie schmiegte sich hinein, ein letztes Mal. Seine Haut war so warm, so perfekt … „Was, wenn es wahr werden könnte, Marietta? Was, wenn es nicht nur ein Traum ist? Was, wenn Weihnachten dieses Jahr für immer bliebe?“
„Reed, wenn ich eines gelernt habe, dann, dass Weihnachten vorbeigeht. Und wenn es vorbei ist, wird der Baum abgebaut und die Dekorationen werden im Keller verstaut.“ Sie schüttelte den Kopf. „Nur Narren glauben an Märchen.“
„Dann hast du hier einen Narren gefunden.“ Grinsend zog er sie mit sich hoch. „Komm, ich möchte dir etwas zeigen.“
„Was sollen wir hier?“ Durch das Seitenfester des Mietwagens blickte Marietta auf das Haus auf der Winterberry Lane mit dem weißen Holzzaun hinüber. „Hattest du nicht gesagt, dass es
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