JULIA FESTIVAL Band 89
in stinkenden Windeln. Allein bei dem Gedanken daran bekam sie Kopfschmerzen. Sie liebte ihre Familie, aber in ihrer Nähe fühlte sie sich immer wie eine Außerirdische. Das war schon immer so gewesen.
Trotz ihres beeindruckenden IQs konnte Nicole nicht gut mit Menschen umgehen, wenn es sich um private oder informelle Kontakte handelte. Ihr fiel es schwer, einfach zu plaudern, und es machte ihr große Schwierigkeiten, eine normale Unterhaltung in Gang zu halten. Dass ihre Familie sie trotzdem liebte, obwohl sie so in sich gekehrt und verschlossen war, konnte Nicole immer noch nicht begreifen. Sie versuchte, nicht zu häufig darüber nachzudenken.
„Dann sehen wir uns am Sonntag.“ Für ihre Mutter schien die Sache klar zu sein. „Es wird Spaß machen, wieder zusammen zu sein.“
Unter Spaß stellte Nicole sich etwas anderes vor. Vielleicht konnte sie eine Extraschicht im Krankenhaus einlegen.
„Ich liebe dich, mein Baby.“
Na gut, dann sollte es eben so sein.
Nicole blieb splitternackt auf dem Bett liegen und vergrub den Kopf unter zwei Kopfkissen. Zwanzig Sekunden später war sie fest eingeschlafen.
Sie träumte. Eigentlich hätte sie gedacht, sie würde heute von der zweiten Operation träumen. Bei dem Patienten war eine Arterie geplatzt, und als sie die Blutung endlich gestillt hatte, war sie von oben bis unten bespritzt gewesen.
Doch das hatte sie alles zurückgelassen, als sie das Krankenhaus verließ. Stattdessen war sie im Traum wieder zwei Jahre alt und lernte die Namen aller ehemaligen Präsidenten der USA auswendig. Ihre Eltern hatten ein Buch über diese Präsidenten, und aus Spaß hatte Nicole ihren altklugen Schwestern Annie und Emma die Liste der Namen dieser Männer von hinten nach vorn aufgesagt.
Damals war allen zum ersten Mal klar geworden, dass Nicole anders als die anderen war.
Mit sechs hatte sie ihrer Schwester Emma bei den Mathehausaufgaben der siebten Klasse geholfen.
Mit zwölf hatte sie Annie geholfen, sich auf die Abschlussprüfungen vorzubereiten. Hinter vorgehaltener Hand war Nicole als Genie und Wunderkind bezeichnet worden, dessen IQ mit normalen Tests nicht mehr messbar war.
Während andere Mädchen sich mit Lipgloss, Popgruppen und Jungen beschäftigten, war Nicole von der Wissenschaft fasziniert gewesen. Sie hatte Frösche operiert und tote Käfer seziert. Doch ihre Altersgefährten blieben ihr ein Rätsel.
Jetzt war sie erwachsen, und immer noch war sie anders als die übrigen Menschen. Dabei hätte sie mittlerweile eigentlich lernen müssen, mit anderen umzugehen und geselliger zu werden.
Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Sie verabredete sich fast nie. Ihre Bestimmung und ihr ganzes Lebensziel war es, kranke Menschen zu heilen. Ihr Leben hatte sie der Medizin verschrieben.
Und wieso tauchte dann plötzlich in ihrem Traum ein großer dunkelhaariger Mann mit sexy Stimme und irischem Akzent auf? Mit umwerfendem Lächeln und einem Blick, der Sehnsüchte in ihr weckte, die ihr völlig neu waren?
Nicole wälzte sich auf die andere Seite und sank wieder in Tiefschlaf.
„Wach endlich auf, Nicole, du machst mir Angst.“
Nicole kuschelte sich tiefer in die Kissen. „Geh weg, Mom, ich muss heute nicht zur Schule.“
„Wenn ich aussehe, als könnte ich deine Mutter sein, dann habe ich etwas Grundlegendes falsch gemacht.“
Nicole riss die Augen auf, und ihr Herz raste. Gut, dachte sie, ich bin zu Hause. Die Sonne scheint – wie ärgerlich. Und Taylor saß auf ihrem Bett und sah so hinreißend schön und elegant wie immer aus.
Stöhnend machte Nicole die Augen wieder zu. „Ich habe dir nicht bei den Vorbereitungen zur Verlobungsfeier geholfen, stimmt’s?“
„Stimmt, aber ich verzeihe dir, weil du es wiedergutmachen wirst. Hier hast du erst mal Frühstück.“
Nicole roch etwas Himmlisches. Sie öffnete ein Auge und sah ein Tablett voller Speisen vor sich. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen.
„Du kannst dir sicher denken, dass nicht ich das alles zubereitet habe. Suzanne richtet heute einen großen Brunch aus, und das hier ist für uns abgefallen. Du hast mir eine höllische Angst eingejagt, weil du auf mein Klopfen nicht reagiert hast. Mein Rufen hast du auch nicht gehört. Welcher Mensch hat einen so tiefen Schlaf?“
Nicole blinzelte. „Ich.“
„Du hast offenbar wieder zu viel gearbeitet. Nicole, das kann doch nicht gesund sein.“
Nicole schloss die Augen wieder. Mit Mitgefühl konnte sie nichts anfangen. Wenn ich mich nicht bewege,
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