Julia Quinn
war freudig
überrascht – leicht auf die Wange. »Du bist gar nicht so schrecklich, weißt
du«, sagte sie lächelnd.
Er konnte das Lächeln nicht sehen, aber er wusste, dass es da war.
»Du tust gern furchtbar distanziert und düster, aber so bist du
gar nicht. Obwohl du schon ziemlich oft eine finstere Miene ziehst.«
Wirklich? Das wollte er nicht. Zumindest
nicht ihr gegenüber.
»Beinahe hättest du mich getäuscht. Ich habe in London wirklich
angefangen, dich nicht mehr zu mögen. Aber ich hatte dich einfach vergessen.
Wie du warst, meine ich. Wie du vermutlich immer noch bist.«
Er hatte
keine Ahnung, wovon sie redete.
»Du zeigst
den Leuten nur nicht gern, wer du wirklich bist.«
Dann schwieg sie wieder, und er
meinte zu hören, wie sie im Zimmer herumging, vielleicht einen Stuhl
zurechtrückte. Als sie weitersprach, hörte er auch das Lächeln wieder. »Ich
glaube, dass du schüchtern bist.«
Ja, um Himmels willen, das hätte er ihr auch noch sagen können.
Er hasste es, mit Leuten zu plaudern, die er nicht kannte. Schon immer.
»Es ist schon merkwürdig, dir so etwas zuzuschreiben«, fuhr
sie fort. »Ein Mann wird nie für schüchtern gehalten.«
Warum eigentlich nicht?, fragte er sich.
»Du bist groß«, merkte sie nachdenklich an, »und athletisch
und intelligent und all das, was ein Mann sein sollte.«
Es fiel ihm durchaus auf, dass sie ihn nicht attraktiv genannt
hatte.
»Ganz zu schweigen von steinreich, ach, und
den Titel gibt es ja auch noch. Wenn du die Absicht hättest, dich zu
verheiraten, dann hättest du die freie Wahl. Die Damen würden Schlange
stehen.«
Fand sie ihn etwa hässlich?
Sie tippte ihn auf die Schulter. »Du hast ja keine Vorstellung
davon, wie viele Leute gern mit dir tauschen würden!«
Jetzt im Moment wohl eher niemand.
»Aber du bist trotzdem schüchtern«, sagte sie beinahe staunend.
Er konnte spüren, dass sie näher gekommen war, ihr Atem strich über seine
Wange. »Ich glaube, mir gefällt das, dass du schüchtern bist.«
Wirklich? Er selbst hatte es immer gehasst. All die Jahre im
Internat, in denen er zuschaute, wie Daniel so einfach mit allen reden konnte,
ohne je einen Augenblick zu zögern. Marcus hingegen brauchte immer etwas
länger, um herauszubekommen, wie er sich am besten in eine Gruppe einfügte.
Deswegen verbrachte er so gern Zeit mit den Smythe-Smiths. Deren Zuhause war
immer chaotisch und verrückt gewesen; er hatte sich beinahe unbemerkt in ihren
ungewöhnlichen Alltag einordnen können und war Teil der Familie geworden.
Es war die einzige Familie, die er je gehabt
hatte.
Wieder berührte Honoria sein Gesicht, strich ihm über den
Nasenrücken. »Wenn du nicht schüchtern wärst, dann wärst du auch zu
vollkommen«, erklärte sie. »Wie ein Romanheld. Du liest ja bestimmt keine
Romane. Aber ich glaube, für meine Freundinnen bist du so etwas wie eine Figur aus Mrs Gorelys
Schauerromanen.«
Wusste er doch, dass es einen Grund gab, warum er ihre Freundinnen
nicht mochte.
»Ich bin allerdings nie sicher, ob du nun der Held oder der
Schurke bist.«
Er beschloss, an der Bemerkung nichts Beleidigendes zu finden.
Beim Sprechen hatte sie spitzbübisch gelächelt. Das konnte er hören.
»Du musst gesund werden«, flüsterte sie jetzt. »Ich wüsste
nicht, was ich ohne dich anfangen sollte.« Und dann sagte sie, so leise,
dass er es kaum hörte: »Ich glaube, du könntest mein Prüfstein sein. Der
Mensch, an dem ich mich messe.«
Er versuchte die Lippen zu bewegen, versuchte etwas zu sagen,
denn so ein Geständnis konnte man nicht unbeantwortet lassen. Doch sein Gesicht
fühlte sich immer noch aufgedunsen und unbeweglich an; mehr als ein paar
keuchende Laute brachte er nicht hervor.
»Marcus?
Möchtest du etwas Wasser?«
Durst hatte
er tatsächlich.
»Bist du
überhaupt wach?«
Gewissermaßen.
»Hier«,
sagte sie, »probier das.«
Er spürte etwas Kaltes an den Lippen. Einen Löffel, mit dem sie
ihm lauwarmes Wasser einflößte. Das Schlucken fiel ihm jedoch schwer, und so
gab sie ihm nur ein paar Tropfen.
»Ich glaube nicht, dass du wach bist«, sagte sie. Er hörte,
wie sie sich wieder in den Sessel setzte. Sie seufzte. Sie klang müde. Das fand
er schrecklich.
Doch er war froh, dass sie bei ihm war. Er hatte so das Gefühl,
dass sie vielleicht sein Prüfstein sein könnte.
12. Kapitel
Doktor!«
Honoria sprang hastig auf, als etwa zwanzig
Minuten später ein erstaunlich junger Mann den Raum betrat. Sie konnte
sich nicht erinnern,
Weitere Kostenlose Bücher