Julia Quinn
ihm ein
weiterer Blick einen letzten wichtigen Hinweis. »Wenn ich ihm das Bein nicht
abnehme, ist es gut möglich, dass er sich vollständig erholt. Oder aber, er
stirbt. Ich kann nicht vorhersagen, wie sich die Entzündung
weiterentwickelt.«
Honoria erstarrte. Nur ihre Augen bewegten sich, von Doktor
Winters' Gesicht zu Marcus' Bein und zurück. »Woher wissen wir, wann es so weit
ist?«, fragte sie ruhig.
Doktor
Winters hob fragend die Brauen.
»Woher wissen wir, wann wir diese Entscheidung treffen müssen?«,
präzisierte sie mit lauter werdender Stimme.
»Es gibt gewisse Zeichen, nach denen man
Ausschau halten kann. Wenn Sie beispielsweise entdecken, dass von der Wunde
rote Streifen ausgehen, wissen wir, dass wir amputieren müssen.«
»Und wenn
nicht, heißt das, er wird wieder gesund?«
»Nicht unbedingt«, räumte der Arzt ein, »aber wenn keine
Veränderungen an der Wunde eintreten, werte ich das als gutes Zeichen.«
Honoria nickte langsam, versuchte, das alles zu verdauen. »Bleiben
Sie hier auf Fensmore?«
»Das geht nicht«, erwiderte er und drehte sich um, um seine
Tasche zu packen. »Ich muss noch nach einem weiteren Patienten sehen. Heute
Abend komme ich noch einmal vorbei. Ich glaube nicht, dass vorher eine
Entscheidung fallen muss.«
»Sie glauben es nicht?«, fragte Honoria scharf. »Sie
sind sich also nicht sicher?«
Doktor Winters seufzte, und zum ersten Mal, seit er den Raum
betreten hatte, wirkte er müde. »In der Medizin gibt es keine absolute
Sicherheit, Mylady. Ich wollte, es wäre anders.« Er schaute aus dem
Fenster, wo das endlose Grün von Fensmores südlicher Rasenpartie zu sehen war.
»Vielleicht wird sich das eines Tages ändern. Aber nicht zu unseren Lebzeiten,
fürchte ich. Bis auf Weiteres ist mein Beruf gleichermaßen eine Kunst wie eine
Wissenschaft.«
Das war nicht das, was Honoria hören wollte, doch sie verstand,
dass es die Wahrheit war, und dankte ihm mit einem Nicken für seine Auskunft.
Doktor Winters erwiderte die Artigkeit mit
einer Verbeugung, gab Honoria und ihrer Mutter noch einige Anweisungen und
versprach noch einmal, dass er später am Abend wiederkommen würde. Lady
Winstead führte den Arzt hinaus. Honoria blieb bei Marcus, der schrecklich
still auf seinem Bett lag.
Ein paar Minuten stand sie regungslos in der Mitte des Zimmers
und fühlte sich merkwürdig schwach und verloren. Sie konnte nichts weiter tun.
Am Morgen hatte sie genauso viel Angst gehabt, aber zumindest hatte sie sich da
auf die Versorgung der Wunde konzentrieren können. Nun blieb ihr nichts
anderes übrig als zu warten, ohne Ablenkung, allein mit ihrer Panik.
Was für eine Wahl. Sein Leben oder sein Bein. Und sie war
möglicherweise diejenige, die diese Wahl zu treffen hatte.
Sie wollte die Verantwortung nicht. Lieber Gott, sie wollte sie
nicht.
»Oh, Marcus«, seufzte sie und ging zum Sessel am Bett. »Wie
ist das nur passiert? Warum ist es passiert? Es ist nicht gerecht.«
Sie setzte sich und beugte sich über die Matratze, verschränkte die Arme und
bettete den Kopf in die Ellenbeuge.
Natürlich würde sie sein Bein opfern, um sein
Leben zu retten. Marcus würde dasselbe tun, wenn er so weit bei Sinnen wäre, um
selbst zu entscheiden. Er war stolz, aber nicht so stolz, dass er lieber tot
gewesen wäre, als ein Bein zu verlieren. Das wusste sie. Natürlich hatten sie
nie darüber geredet – wer sprach schon über solche Dinge? Niemand saß am
Dinnertisch und plauderte darüber, ob man lieber amputieren lassen oder sterben
würde.
Aber sie wusste, was er sich wünschen würde. Sie kannte ihn seit
fünfzehn Jahren. Sie brauchte ihn nicht zu fragen, wie er sich entscheiden
würde.
Zornig würde er aber schon sein. Nicht auf sie. Nicht einmal auf
den Arzt. Auf das Leben. Vielleicht auf Gott. Aber er würde durchhalten. Dafür
würde sie schon sorgen. Sie würde nicht von seiner Seite weichen, ehe er ...
Ehe er ...
Ach, lieber Gott. Sie konnte es sich nicht
einmal vorstellen. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. In diesem
Moment wäre sie am liebsten nach draußen gerannt, um Doktor Winters anzuflehen,
Marcus das Bein sofort abzunehmen. Wenn das sein Überleben sicherstellte, würde
sie die verdammte Säge sogar eigenhändig halten. Oder sie wenigstens dem Arzt
reichen.
Den Gedanken an eine Welt ohne Marcus konnte sie nicht ertragen.
Selbst wenn er nicht Teil ihres Lebens war. Selbst wenn er hier in
Cambridgeshire blieb und sie irgendeinen Gentleman in Yorkshire, Wales
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