Julia Quinn
Wunde gießen
würden?«, fragte Mrs Wetherby.
Lady Winstead blinzelte. »Ich habe keine
Ahnung.«
»Schaden kann es ja wohl nicht, oder?«, meinte Honoria. »Wenn
man es sogar schlucken kann, dürfte es die Haut doch kaum reizen. Und wenn es
hilft, die Schmerzen zu lindern ...«
»Ich habe es gleich hier«, sagte Mrs Wetherby und hielt die
kleine braune Flasche hoch.
Honoria nahm sie entgegen und entkorkte sie.
»Mutter?«
»Nur ein bisschen.« Lady Winstead sah nicht aus, als wäre sie
von ihrer Entscheidung überzeugt.
Honoria spritzte etwas Laudanum auf Marcus' Bein, und sofort
heulte er vor Schmerz auf.
»Ach herrje«, stöhnte Mrs Wetherby. »Es tut mir so leid. Es
war meine Idee.«
»Nein, nein«, erwiderte Honoria. »Das liegt am Sherry. So
wird das eben hergestellt.« Sie hatte keine Ahnung, woher sie das wusste, aber sie war sich ziemlich sicher,
dass die Flasche mit dem Unheil verkündenden Etikett (GIFT stand darauf in
weitaus größeren Lettern geschrieben als LAUDANUM) auch noch Zimt und Safran
enthielt. Sie tauchte den Finger hinein und kostete.
»Honoria!«,
rief ihre Mutter aus.
»Oh Gott, das schmeckt ja grässlich«, sagte Honoria und rieb
die Zunge am Gaumen, um den Geschmack zu vertreiben, doch vergebens. »Aber
Sherry ist auf alle Fälle drin.«
»Ich kann nicht glauben, dass du etwas davon eingenommen
hast«, sagte Lady Winstead. »Das ist doch gefährlich!«
»Ich war eben neugierig. Er hat eine fürchterliche Grimasse
gezogen, als wir es ihm gegeben haben. Und als wir es auf die Wunde gegossen
haben, hat das eindeutig wehgetan. Außerdem war es doch nur ein Tropfen.«
Ihre Mutter seufzte bekümmert. »Wenn nur der Arzt endlich
käme!«
»Es dauert bestimmt noch ein Weilchen«, erklärte Mrs
Wetherby. »Mindestens eine Stunde, würde ich sagen. Und das nur, wenn der Ruf
ihn zu Hause erreicht. Wenn er unterwegs ist ...« Ihre Stimme verklang.
Ein paar Augenblicke sagte niemand etwas. Das einzige Geräusch,
das zu hören war, war Marcus' Atem, der merkwürdig flach und schwer klang.
Schließlich ertrug Honoria das Schweigen nicht länger und fragte: »Was machen
wir jetzt?« Sie blickte auf Marcus' Bein hinunter. Es sah offen und
entzündet aus und blutete auch noch ein wenig. »Sollen wir es verbinden?«
»Ich glaube nicht«, erwiderte ihre Mutter. »Wenn der Arzt
kommt, müssen wir den Verband nur wieder abnehmen.«
»Haben Sie Hunger?«, fragte Mrs Wetherby.
»Nein«, sagte Honoria, doch das stimmte nicht. Sie war regelrecht
ausgehungert. Aber sie würde jetzt wohl keinen Bissen hinunterbringen, glaubte
sie.
»Lady Winstead?«, fragte Mrs Wetherby ruhig.
»Vielleicht etwas Kleines«, murmelte sie, ohne den besorgten Blick
von Marcus zu lösen.
»Wie wäre es mit einem Sandwich?«, schlug Mrs Wetherby vor,
»oder, du liebe Güte, mit Frühstück? Sie haben beide noch gar nicht
gefrühstückt. Ich könnte die Köchin bitten, Schinken und Eier zu braten.«
»Lassen Sie zubereiten, was am einfachsten ist«, erwiderte
Lady Winstead. »Und bitte auch etwas für Honoria.« Sie sah ihre Tochter
an. »Du solltest versuchen, etwas zu essen.«
»Ich weiß. Ich kann nur ...« Sie beendete den Satz nicht.
Ihre Mutter wusste bestimmt genau, wie ihr zumute war.
Sanft legte sich eine Hand auf ihre Schulter. »Du solltest dich
setzen.«
Honoria setzte sich.
Und wartete.
Es war das Schwerste, was sie je getan hatte.
11. Kapitel
Laudanum war
doch etwas Großartiges.
Normalerweise mied Marcus dieses Mittel ja
und neigte sogar dazu, auf jene herabzublicken, die es anwendeten,
aber nun fragte er sich, ob er den Leuten vielleicht Abbitte leisten musste.
Denn nun war ihm klar, dass er bisher noch nie richtig Schmerzen gelitten
hatte. Nicht so wie jetzt.
Es war weniger das Herumgestochere und Geschnippel. Gut, es hatte
natürlich wehgetan, aber es war zu ertragen gewesen.
Was ihn wirklich schier umgebracht hatte (zumindest fühlte es sich
so an), war der Moment, als Lady Winstead den Brandy zum Einsatz brachte – und
immer wieder mindestens eine Gallone davon über die offene, klaffende Wunde
schüttete. Es brannte wie Hölle. Noch schlimmer hätte es nicht mal dann
schmerzen können, wenn sie das Zeug auch noch angezündet hätte.
Nie wieder würde er Brandy anrühren. Höchstens wirklich
erstklassigen. Und selbst dann nur aus Prinzip. Wenn es das wirklich
erstklassige Zeug war.
Das getrunken werden musste.
Er kam kurz ins Grübeln. Als ihm der Gedanke
mit dem Brandy gekommen war,
Weitere Kostenlose Bücher