Julia Sommerliebe Band 23
Weise trauert, aber Antonio und seine Familie waren auf ein- und dieselbe Art mit der Totgeburt umgegangen: Sie hatten einfach ihr Leben fortgesetzt, als wäre nichts geschehen. Abgesehen von dem ersten Tag nach Claires Entlassung aus der Klinik war das Baby nie wieder erwähnt worden – zumindest nicht in ihrer Gegenwart.
Im Krankenhaus war eine kurze Taufe abgehalten worden, eine Beisetzung hatte aber nicht stattgefunden. Antonios Eltern hatten es nicht für angemessen gehalten. Aus Kummer hatte Claire die Entscheidung akzeptiert, weil sie es unter den gegebenen Umständen vermutlich nicht verkraftet hätte, die Beerdigung eines winzigen Sarges mitzuerleben. Erst später, nach der Rückkehr nach Australien, hatte sie sich imstande gefühlt, ihrer Tochter eine letzte Ruhestätte zu geben.
Die Musik verstummte. Claire nutzte die Gelegenheit, um den Waschraum aufzusuchen und ihre Gefühle wieder in den Griff zu bekommen. Sie entschuldigte sich bei Antonio und spürte seinen bohrenden Blick im Rücken, als sie den Saal durchquerte.
In der Damentoilette schloss sie sich in eine Kabine ein und atmete mehrmals tief durch. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und ihre Augen brannten vor bitteren Tränen der Reue.
Seit langer Zeit gab sie ganz selbstgerecht Antonio die Schuld für das Scheitern ihrer Ehe – in der festen Überzeugung, dass er sie betrogen hatte. Doch im Nachhinein sah sie ein, wie kindisch und dumm dieses Verhalten war. Sie war ebenso wenig auf eine Ehe vorbereitet gewesen wie er; sie war zu jung gewesen – nicht nur an Jahren, sondern auch an Lebenserfahrung. Antonio hatte zumindest so viel Reife bewiesen, um die Verantwortung für die Schwangerschaft zu übernehmen, und nicht einmal einen Vaterschaftstest verlangt, wie viele andere Männer es möglicherweise getan hätten.
Wieso erkannte sie das erst jetzt? Vielleicht mochte Antonio sie nie geliebt haben, aber zumindest hatte er sie nicht verlassen, sondern zu ihr gestanden, soweit es ihm sein anstrengender Beruf ermöglichte.
War es womöglich unfair, ihm vorzuwerfen, dass er bei der Geburt durch Abwesenheit geglänzt hatte? Schließlich war er Chirurg. Tag für Tag lag das Leben anderer Menschen in seiner Hand. Claire hatte ihn nicht einmal gefragt, warum er nicht rechtzeitig eingetroffen war, sondern ihm unterstellt, dass er vorsätzlich ferngeblieben war, weil er das Baby gar nicht wollte. Wiederum eine voreilige Annahme von ihr.
Anfänglich mochte er betroffen auf die unerwartete Schwangerschaft reagiert haben, aber im Laufe der Wochen und Monate hatte er sich bemüht, Claire zu allen Schwangerschaftsuntersuchungen zu begleiten. Mehrmals hatte er sich die Ultraschall-DVD angesehen und das Strampeln des Babys mit den winzigen Gliedmaßen beobachtet. Er hatte sogar ein Namensbuch gekauft und es mit einer Hand auf ihrem Bauch gemeinsam mit ihr angesehen.
Zum ersten Mal erlebte Claire, dass man sich vor Gewissensbissen körperlich krank fühlen kann. Es war wie ein brennender Schmerz im Innern, der unaufhaltsam an ihr nagte und ihr bewusst machte, wie leichtfertig sie ihre Chance auf das große Glück weggeworfen hatte.
Ja, ihnen war eine Tragödie widerfahren, von der sich keiner von beiden jemals vollständig erholen konnte, doch nun bot sich ihr eine einzigartige Gelegenheit, etwas gegen die Enttäuschung und den Schmerz der Vergangenheit zu unternehmen. Es war sehr optimistisch und vielleicht unrealistisch zu hoffen, dass Antonio sich in sie verlieben könnte. Aber ihr standen drei Monate zur Verfügung, um ihm zu beweisen, dass ihre Liebe groß genug für sie beide war.
Als sie einige Minuten später an den Tisch zurückkehrte, stand Antonio auf und rückte ihr den Stuhl zurecht. Forschend, mit leicht gerunzelter Stirn musterte er ihr Gesicht. „Ist alles in Ordnung, cara? Du warst so lange weg, dass ich schon jemanden schicken wollte, um nach dir zu sehen.“
Sie setzte sich. „Es geht mir gut. Ich musste nur Schlange stehen.“
Die Frau gegenüber, die sich als Janine Brian vorgestellt hatte, beugte sich zu Claire vor. „Ich habe heute Morgen von Ihrer Versöhnung mit Ihrem Mann in der Zeitung gelesen. Bestimmt werden Sie diesmal sehr glücklich miteinander. John und ich haben im September unseren fünfunddreißigsten Hochzeitstag. Wir haben Höhen und Tiefen erlebt, aber darum geht es in einer Ehe. Man muss geben und nehmen und sich vor allem lieben.“
Claire setzte ein Lächeln auf. „Bestimmt liegt noch ein gutes Stück
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