Julia-Weihnachten Band 24
versunken, dass er gar nicht mehr auf seine Umgebung geachtet hatte. Plötzlich fand er sich auf einer ihm nur allzu bekannten, inzwischen halb zugewucherten Sandstraße wieder.
Als ihm bewusst wurde, wo er war, überwältigten ihn die schmerzlichen Erinnerungen mit einer solchen Heftigkeit, dass er den Wagen an den Straßenrand fahren musste.
Das letzte Mal war er nach dem Tod seines Vaters hier gewesen, um dessen Habseligkeiten einzupacken. Bei dieser Gelegenheit hatte er auch das handschriftliche Testament gefunden. Ich will kein Grab. Gebt mein Zeug meinem Sohn und sagt ihm, es tut mir leid. Das war alles gewesen.
Dem ungepflegten Zustand der Straße und dem dichten Unterholz nach zu urteilen, wohnte hier schon lange niemand mehr. Tom hatte keine Ahnung, wem das Land überhaupt gehörte. Dem Staat vielleicht?
Die Vorstellung, an den Ort seiner Kindheit zurückkehren zu müssen, widerstrebte ihm zutiefst. Aber da ihn sein Instinkt schon mal hierher geführt hatte, konnte er sich genauso gut mal umsehen. Außerdem kam es für ihn grundsätzlich nicht infrage, sich von seiner Angst beherrschen zu lassen.
Tom fuhr daher weiter und blieb schließlich vor dem schäbigen Haus stehen, in dem er den Großteil seiner Kindheit verbracht hatte. Als er den Motor ausschaltete, senkte sich die Stille des Waldes über ihn wie eine Decke.
Nachdem er die baufälligen Ziegelmauern und das eingesunkene Dach gemustert hatte, stieg er langsam aus dem Wagen und atmete den Duft verrottender Tannennadeln ein. Früher hatte der Abfallhaufen neben dem Haus immer einen unerträglichen Gestank verbreitet.
Kein Ort, an den ein Junge gern seine Freunde mitbrachte. Auch Marnie hatte das Haus erst nach dem Tod seines Vaters zu Gesicht bekommen. Nie würde Tom ihren geschockten und mitleidigen Gesichtsausdruck vergessen, den er als sehr demütigend empfunden hatte.
Was wohl seine kultivierten römischen Freunde von diesem Ort halten würden? Ob sie wohl jetzt verstehen würden, warum er sich in Momenten des Selbstzweifels manchmal wie ein Betrüger vorkam?
Als Tom die Autotür zuschlug, flatterten ein paar Vögel auf, und ein Eichhörnchen schoss ins Unterholz.
Für einen Moment kam Tom sich wieder wie der kleine Junge von damals vor, mit Löchern in den Schuhsohlen und dem bedrückenden Gefühl, total allein zu sein.
Dabei hatte es irgendwann bessere Zeiten gegeben. Als seine Mutter noch da gewesen war, hatte sie ihn abends manchmal nach seinem Tag gefragt und ihm Spaghetti gekocht.
Undeutlich sah er sie vor sich, das blonde Haar, das schmale verhärmte Gesicht und das müde Lächeln. Leider besaß er keine Fotos von ihr; sein Vater hatte alles vernichtet, nachdem sie ihn verlassen hatte.
Tom trat durch die Lücke, in der einmal die Eingangstür gewesen war. Im Innern war das Haus sogar noch kleiner als in seiner Erinnerung.
Er sah die Kochnische, in der seine Mutter immer die Mahlzeiten auf einem Campingkocher zubereitet hatte. Beim Anblick der verrottenden Couch auf der linken Seite musste er unwillkürlich daran denken, wie sich die kaputten Springfedern nachts in seinen Rücken gebohrt hatten.
Es roch nach Schimmel, aber soweit er wusste, war das auch früher der Fall gewesen.
Himmel, was für ein elendes Drecksloch, dachte Tom. Unvorstellbar, dass er früher mal hier gewohnt hatte.
Aber es gab keinen Grund, verbittert zu sein, denn er hatte das große Glück gehabt, Marnie und ihre Großmutter zu finden und ein neues Leben anzufangen. Gott sei Dank hatte er nicht die Veranlagung seines Vaters zum Alkoholismus geerbt.
Aber eine dunkle Seite gab es auch in ihm: seine Wut. Er wusste noch genau, wie sie beim letzten Mal, als sein Vater die Hand gegen ihn erhoben hatte, in ihm hochgekocht war. Schon bei der bloßen Erinnerung daran ballte Tom wieder instinktiv die Fäuste.
Damals, als er sich zum ersten Mal gegen Furnell zur Wehr gesetzt hatte, war er selbst erschrocken über das Ausmaß seiner Wut gewesen. Er hatte sich geschworen, sich nie wieder so gehen zu lassen, und bisher war es ihm auch gelungen.
Doch seine Wut war auch eine wichtige Triebfeder: Sie trieb ihn dazu, Risiken einzugehen und nach neuen Herausforderungen zu suchen. Gott sei Dank hatte er es geschafft, sie in konstruktive Bahnen zu lenken, aber er wusste, dass sie noch immer in ihm schwelte und jederzeit wieder ausbrechen konnte.
Unzählige Male hatte er versucht, Marnie das zu erklären, aber sie hatte ihn einfach nicht ernst genommen. Sie betrachtete
Weitere Kostenlose Bücher