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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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sie, wenn sie sich alle gegen die wenigen zusammenschlössen, unter Umständen in der Lage waren, das Podium zu stürmen und die Dame zu rauben, die so eindeutig zu einem anderen gehörte. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie gegen Salimbeni rebellierten. Wenn sie nur lange genug schoben, würden sich die mächtigen Männer am Ende in ihren hohen Türmen verschanzen und rasch alle Treppen und Leitern hochziehen müssen.
    Für Giulietta, die auf dem Podium saß wie ein unerfahrener Seemann auf stürmischer See, war es erschreckend und berauschend zugleich, die Macht der sie umtosenden Elemente zu spüren. All diese Leute - Tausende von fremden Menschen, deren Namen sie nicht kannte - waren bereit, den Hellebarden der Wachen zu trotzen und dafür zu sorgen, dass ihr Gerechtigkeit zuteil wurde. Wenn sie nur lange genug schoben, würde das Podium bald kippen, und all die edlen Herren wären damit beschäftigt, sich und ihre schönen Gewänder vor dem Mob in Sicherheit zu bringen.
    In solch einem Pandemonium, dachte Giulietta, könnte ihr und Romeo vielleicht die Flucht gelingen, und gewiss sorgte die Jungfrau Maria dann dafür, dass der Aufstand lange genug währte, damit sie gemeinsam aus der Stadt entkommen konnten.
    Doch es sollte nicht sein. Noch ehe die Menge richtig Schwung geholt hatte, stürmte eine neue Gruppe von Leuten auf den Platz, um Messer Tolomei schreckliche Neuigkeiten entgegenzuschreien. »Tebaldo«, riefen sie und rauften sich vor Verzweiflung die Haare, »es ist Tebaldo! Oh, der arme Junge!« Als sie schließlich das Podium erreichten, wo Tolomei sie auf Knien bat, ihm zu sagen, was mit seinem Sohn passiert war, antworteten sie unter Tränen: »Er ist tot! Ermordet! Beim Palio erstochen!« Dabei fuchtelten sie mit einem blutigen Dolch in der Luft herum.
    Sobald Tolomei den Sinn ihrer Worte begriffen hatte, brach er zuckend zusammen, und auf dem ganzen Podium breiteten sich Angst und Schrecken aus. Schockiert über den Anblick ihres Onkels, der aussah, als wäre er von einem Dämon besessen, wich Giulietta zunächst vor ihm zurück, zwang sich dann jedoch, niederzuknien und sich um ihn zu kümmern, so gut sie konnte, indem sie ihn von dem Durcheinander aus Füßen und Beinen abschirmte, bis Monna Antonia und die Dienstboten zu ihnen vordrangen. »Onkel Tolomei«, drängte sie ihn, weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte, »beruhigt Euch!«
    Der Einzige, der sich von all dem nicht aus der Fassung bringen ließ, war Salimbeni, der nun verlangte, die Mordwaffe zu sehen, und sie sofort hoch in die Luft reckte, damit alle einen guten Blick darauf hatten. »Seht her«, brüllte er, »da habt ihr euren Helden! Das ist der Dolch, durch den Tebaldo Tolomei während unseres heiligen Rennens ums Leben gekommen ist! Seht ihr?« Er deutete auf seinen Griff. »Hier ist der Marescotti-Adler eingraviert! Was sagt ihr dazu?«
    Giulietta blickte entsetzt hoch. Auch die Menschenmenge starrte ungläubig zu Salimbeni und dem Dolch hinauf. Das war der Mann, den sie noch einen Moment zuvor bestrafen wollten, doch die schockierenden Neuigkeiten über die Greueltat und der Anblick von Messer Tolomeis trauernder Gestalt hatten sie aus dem Konzept gebracht. Nun wussten sie nicht mehr, was sie von der ganzen Sache halten sollten, und warteten mit offenem Mund darauf, dass ihnen jemand ein Stichwort gab.
    Als Giulietta sah, wie sich der Ausdruck auf ihren Gesichtern veränderte, begriff sie sofort, dass Salimbeni diesen Moment im Voraus geplant hatte, um den Mob gegen Romeo aufzuwiegeln, falls er den Palio gewinnen sollte. Inzwischen hatten die Leute fast schon wieder vergessen, warum sie das Podium stürmen wollten, doch ihre Emotionen waren immer noch in Aufruhr, und sie lechzten nach einem neuen Ziel, das sie in Stücke reißen konnten.
    Sie brauchten nicht lange zu warten, denn Salimbeni hatte in der Menge genug treue Anhänger. Kaum begann er mit dem Dolch in der Luft herumzufuchteln, rief auch schon jemand: »Romeo ist der Mörder!«
    Binnen einer Sekunde waren die Leute von Siena wieder vereint, dieses Mal in ihrer Abscheu gegen den jungen Mann, den sie eben noch als ihren Helden bejubelt hatten.
    Da Salimbeni in diesem ganzen tosenden Durcheinander wieder die Oberhand hatte, wagte er nun sogar, Romeos sofortige Verhaftung anzuordnen und alle, die dem widersprachen, als Verräter zu bezeichnen. Doch zu Giuliettas ungeheurer Erleichterung brachten die Wachen, als sie eine Viertelstunde später zum Podium

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