Julia
Menge gibt es keine Tatsachen, sondern nur Gefühl und Hoffnung, und die Wünsche der Menge siegen stets über die Wahrheit eines Einzelnen.
Das erste Wurfgeschoss traf ihn, als er in die Gegend von Magione kam. Was es war, bekam er nicht mit, er spürte nur einen plötzlichen, brennenden Schmerz an der Schulter. Das Ding hatte ihn lediglich gestreift und war irgendwo hinter ihm zu Boden gefallen.
Das nächste Geschoss traf mit einem betäubenden Schlag seinen Oberschenkel. Für einen kurzen Moment befürchtete er, durch den heftigen Aufprall könnte es ihm den Oberschenkel zerschmettert haben, doch als er das Bein mit einer Hand befühlte, spürte er nichts, nicht einmal Schmerz. Wobei es ohnehin keine Rolle spielte, ob der Knochen gebrochen war oder nicht, solange er noch im Sattel saß und den Fuß fest im Steigbügel hatte.
Der dritte Gegenstand war zum Glück kleiner, denn er traf ihn direkt an der Stirn und hätte ihn fast besinnungslos geschlagen. Er musste ein paarmal nach Luft ringen, ehe es ihm gelang, die Dunkelheit abzuschütteln und das Pferd wieder unter Kontrolle zu bekommen. Um ihn herum lachte alles, die ganze Wand aus schreienden Mündern amüsierte sich über seine Verwirrung. Erst jetzt begriff er so richtig, was seinem Vater von vorneherein klar gewesen war: Wenn er in den Vierteln, die von den Salimbenis beherrscht wurden, an der Spitze blieb, würde er das Rennen auf keinen Fall bis zum Schluss überstehen.
Nachdem er seine Entscheidung getroffen hatte, fiel es ihm nicht mehr schwer, die Führungsposition aufzugeben. Die Herausforderung bestand nun darin, sich nicht von mehr als drei anderen Reitern überholen zu lassen. Sie alle funkelten ihn im Vorbeireiten böse an - der Sohn von Tolomei, der Sohn von Salimbeni und noch einer, der jedoch unwichtig war -, und Romeo funkelte böse zurück. Er hasste sie dafür, dass sie glaubten, er gebe auf, und sich selbst verabscheute er, weil er zu solchen Tricks greifen musste.
Während er die Verfolgung aufnahm, blieb er den dreien so knapp wie möglich auf den Fersen und hielt dabei den Kopf eingezogen. Er vertraute darauf, dass keiner der in der Stadt wohnenden Salimbeni-Anhänger riskieren würde, den Sohn seines Gönners zu verletzen. Wie sich herausstellte, lag er damit richtig. Der Anblick des Salimbeni-Banners ließ alle einen Moment zu lange zögern, ehe sie ihre Ziegelsteine und Töpfe warfen. Während die vier Reiter durch die Gegend von San Donato galoppierten, wurde Romeo von keinem einzigen Gegenstand getroffen.
Als er schließlich über die Piazza Salimbeni ritt, wusste er, dass es an der Zeit war, das Unmögliche zu vollbringen: nacheinander seine drei Konkurrenten zu überholen, ehe die Route scharf in die Via del Capitano einbog und gleich darauf in die Piazza del Duomo mündete. Dies war nun wahrhaft der Moment, in dem sich göttliches Eingreifen zeigen würde. Sollte es ihm tatsächlich gelingen, von seiner momentanen Position aus das Rennen zu gewinnen, dann einzig und allein, weil der Himmel ihm wohlgesonnen war.
Entschlossen gab Romeo seinem Pferd die Sporen und näherte sich den Söhnen von Tolomei und Salimbeni - die Seite an Seite ritten, als wären sie seit jeher Verbündete -, doch kurz bevor er sie überholen wollte, schwang Nino Salimbeni den Arm zurück wie ein Skorpion den Schwanz und stieß einen schimmernden Dolch in das Fleisch von Tebaldo Tolomei. Er traf genau die Stelle über dem Brustpanzer, wo zwischen Körperrüstung und Helm der zarte Hals zu sehen war.
Es passierte so schnell, dass niemand genau mitbekommen haben konnte, wer den Angriff geführt hatte und wie. Man sah nur etwas Goldenes aufblitzen, anschließend ein kurzes Gerangel. Dann fiel der siebzehnjährige Tebaldo Tolomei mitten auf der Piazza Tolomei vom Pferd. Während ein paar entsetzt aufschreiende Kunden seines Vaters den schlaffen Körper des jungen Mannes zur Seite zogen, ritt der Mörder mit unverminderter Geschwindigkeit weiter, ohne sich auch nur umzublicken.
Der Einzige, der auf den abscheulichen Vorfall reagierte, war der dritte Reiter. Da er sich für den einzigen Wettkämpfer hielt, der Nino Salimbeni nun noch gefährlich werden konnte, begann er aus Angst um das eigene Leben sein Banner nach dem Mörder zu schwingen, um ihn nach Möglichkeit mit seiner Lanze aus dem Sattel zu stoßen.
Romeo ließ währenddessen Cesares Zügel locker, um möglichst schnell an den beiden Kampfhähnen vorbeizukommen, wurde aber fast aus dem Sattel
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