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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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Namen ihrer Favoriten und Rivalen, als könnte ihr Geschrei auf irgendeine Weise das Schicksal lenken. Rund um sie herum reckten die Leute die Hälse, um zu sehen, welcher der fünfzehn Reiter als Erster auf die Piazza galoppieren würde, doch Giulietta konnte nicht hinsehen. Während sie vor dem ganzen Durcheinander die Augen schloss, presste sie die gefalteten Hände an die Lippen und wagte das eine Wort auszusprechen, das alles gutmachen würde: »Aquila!«
    Einen atemlosen Moment später wurde dieses Wort rund um sie herum von Tausenden von Stimmen wiederholt: Aquila! Aquila! Aquila! Es wurde begeistert gerufen, lachend hinausposaunt, verächtlich geknurrt ... und als Giulietta die Augen wieder aufschlug, sah sie Romeo über die Piazza fegen, wo sein Pferd, das vor Erschöpfung schon Schaum vor dem Maul hatte, für einen Moment auf dem holperigen Boden dahinschlitterte, ehe es schnurstracks auf den Engelswagen mit dem Cencio zusteuerte. Romeos Gesicht wirkte vor Zorn ganz verzerrt, und Giulietta erkannte entsetzt, dass er blutverschmiert war. Trotzdem trug er das Adlerbanner noch in der Hand, und er war der Erste. Der Erste.
    Ohne sich die Zeit zu nehmen, in Jubel auszubrechen, ritt Romeo geradewegs zum Engelswagen hinüber, schob die pausbäckigen Chorknaben beiseite, die mit Flügeln geschmückt an Seilen aufgehängt waren, griff nach der Stange mit dem Cencio und ersetzte sie durch seine Lanze.
    Nun, da er seinen Preis hoch in die Luft hielt, war er endlich bereit, seinen Triumph in vollen Zügen zu genießen, und wandte sich seinem unmittelbaren Konkurrenten Nino Salimbeni zu, um sich an der Wut des anderen zu ergötzen.
    Niemand kümmerte sich um die Reiter, die als Dritter, Vierter und Fünfter eintrafen. Fast synchron wandte die Menge die Köpfe, um zu sehen, was Salimbeni wegen Romeo und dieser unerwarteten Wendung der Dinge unternehmen würde. Mittlerweile gab es in ganz Siena niemanden mehr - weder Mann, noch Frau -, der nicht von Romeos Aufbegehren gegen Salimbeni und seinem Schwur vor der Jungfrau Maria gehört hatte -dass er, sollte er den Palio gewinnen, keine Kleidung aus dem Cencio machen, sondern ihn über sein Hochzeitsbett breiten würde -, und nur wenige Herzen in der Stadt fühlten nicht mit dem jungen Liebenden.
    Als Tolomei sah, dass sich Romeo den Cencio gesichert hatte, erhob er sich abrupt. Für einen Moment schwankte er, als würden ihn die Windböen Fortunas hin und her werfen. Rund um ihn herum schrien und bettelten die Leute von Siena, er möge doch seinem Herzen einen Stoß geben. Neben ihm jedoch saß ein Mann, der nicht zögern würde, besagtem Herzen eine ganz andere Art von Stoß zu verpassen, falls er nun tat, worum das Volk ihn bat.
    »Messer Tolomei«, rief Romeo und reckte den Cencio hoch empor, während sich das Pferd unter ihm aufbäumte, »der Himmel hat zu meinen Gunsten gesprochen! Wagt Ihr es, die Wünsche der Jungfrau Maria zu missachten? Werdet Ihr diese Stadt opfern, indem Ihr sie ihrem göttlichen Zorn aussetzt? Ist Euch das Vergnügen dieses Mannes ...« - er deutete auf Salimbeni - »mehr wert als die Sicherheit von uns allen?«
    Bei seinen letzten Worten ging ein solcher Aufschrei der Entrüstung durch die Menge, dass die Wachen rund um das Podium mit gezückten Waffen in Position gingen. Unter den Stadtbewohnern gab es einige, die den Wachen trotzten und kühn die Arme nach Giulietta ausstreckten und sie drängten, vom Podium zu springen und sich zu Romeo bringen zu lassen, doch Salimbeni setzte ihren Bemühungen ein Ende, indem er aufstand und Giulietta energisch eine Hand auf die Schulter legte.
    »Gut gemacht, mein Junge!«, rief er unerschrocken zu Romeo hinüber, weil er darauf vertraute, dass seine vielen Freunde und Anhänger ihm laut zujubeln und dadurch das Blatt wenden würden. »Du hast das Rennen gewonnen! Nun gehe nach Hause und nähe dir aus diesem Cencio ein schönes Kleid. Vielleicht darfst du dann ja meine Brautjungfer sein, wenn ...«
    Doch die Menge hatte genug gehört und ließ ihn nicht ausreden. »Schande über die Salimbenis«, rief jemand, »weil sie den Willen des Himmels missachten!« Der Rest stimmte sofort ein. Wütend schrien die Leute den edlen Herren ihre Entrüstung entgegen und machten sich bereit, ihrem Zorn gewaltsam Ausdruck zu verleihen. Alte Palio-Rivalitäten waren plötzlich vergessen, und die paar Dummköpfe, die immer noch sangen, wurden von den anderen schnell zum Schweigen gebracht.
    Die Leute von Siena wussten, dass

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