Julia
angstvoller Spannung, und die rasch schwindende Seitenzahl verriet mir, dass ein bitteres Ende bevorstand. Ich befürchtete, dass Romeo und Julia nicht bis ans Ende ihrer Tage gemeinsam glücklich sein würden. Schließlich hatten nicht nur literarische Kunststücke, sondern harte Fakten ihr Leben zu einer Tragödie gemacht. Alles sah danach aus, dass Romeo bereits gestorben war, und zwar durch einen Stich in den Bauch, ausgeführt mit jenem unglückseligen Dolch - meinem Dolch -, und Giulietta sich seitdem in den Fängen eines verhassten Feindes befand. Blieb nur noch abzuwarten, ob sie ebenfalls sterben würde, ehe die Seiten endeten.
Vielleicht war ich deswegen so gedrückter Stimmung, als ich an diesem Morgen ganz oben auf dem Mangia-Turm stand und meinen Motorrad-Romeo erwartete. Oder ich hatte einfach Angst. Schließlich wusste ich verdammt gut, dass ich nicht hätte kommen sollen. Welche Sorte Frau erklärt sich mit einem Blind Date auf einem hohen Turm einverstanden? Und welcher Typ Mann verbringt seine Nächte mit einem Helm auf dem Kopf, dessen Visier er stets heruntergeklappt lässt, und kommuniziert mit den Leuten durch Tennisbälle?
Trotzdem war ich hier.
Falls es sich bei diesem mysteriösen Mann tatsächlich um einen Nachfahren des mittelalterlichen Romeo handelte, musste ich einfach wissen, wie er aussah. Mehr als sechshundert Jahre zuvor waren unsere Vorfahren unter äußerst brutalen Umständen auseinandergerissen worden, und in der Zeitspanne zwischen damals und jetzt hatte sich ihre verhängnisvolle Romanze zu einer der größten Liebesgeschichten der Welt entwickelt.
Wieso war ich dann nicht viel aufgeregter? Eigentlich hätte ich doch fast platzen müssen vor Anspannung. Immerhin war eine meiner historischen Figuren endlich zum Leben erwacht, noch dazu die - zumindest in meinen Augen - wichtigste von allen. Seit Maestro Lippi mich zum ersten Mal darauf aufmerksam gemacht hatte, dass im nächtlichen Siena ein zeitgenössischer, kunstliebender und weintrinkender Romeo Marescotti herumgeisterte, hatte ich heimlich von einem Treffen mit ihm geträumt. Nun aber, da es bevorstand - angekündigt mit roter Tinte und einer schwungvollen Unterschrift -, wurde mir bewusst, dass ich im Grunde fast so etwas wie Übelkeit empfand ... die Sorte Übelkeit, die einem zu schaffen macht, wenn man jemanden hintergeht, dessen Wertschätzung man auf keinen Fall verlieren möchte.
Während ich nun dort oben auf der Brüstung saß und auf eine Stadt hinunterblickte, die gleichzeitig schmerzhaft schön und unwiderstehlich arrogant wirkte, begriff ich, dass dieser Jemand Alessandro war. Ja, er war ein Salimbeni, und nein, er mochte meinen Romeo kein bisschen, aber sein Lächeln - wenn er es denn zuließ - war so aufrichtig und so ansteckend, dass ich bereits süchtig danach war.
Andererseits war das einfach lächerlich. Wir kannten uns gerade mal eine Woche, und einen Großteil dieser Zeit waren wir uns gegenseitig an die Gurgel gegangen, eifrig angespornt von meiner eigenen, voller Vorurteile steckenden Familie. Nicht einmal Romeo und Julia - die echten - konnten sich dieser Art anfänglicher Feindschaft rühmen. Was für eine Ironie des Schicksals, dass die Geschichte unserer Vorfahren auf solche Weise endete: indem sie uns aussehen ließ wie Möchtegern-Shakespeare-Figuren, gleichzeitig aber unsere kleine Dreiecksgeschichte ernstlich durcheinandermischte.
Kaum hatte ich mir jedoch eingestanden, dass ich in Alessandro verliebt war, begann mir der Romeo, den ich gleich treffen würde, bereits leid zu tun. Laut meinem Cousin Peppo hatte er sich ins Ausland abgesetzt, um der Bosheit zu entfliehen, die ihn und seine Mutter aus der Stadt getrieben hatte. Welchen Grund seine Rückkehr nach Siena letztendlich auch haben mochte, er ging mit seinem Angebot, mich heute hier auf dem Mangia-Turm zu treffen, höchstwahrscheinlich ein sehr großes Risiko ein. Allein dafür schuldete ich ihm Dank.
Selbst wenn er Alessandro nicht das Wasser reichen konnte, wollte ich ihm zumindest die Chance geben, um mich zu werben, falls das sein Wunsch sein sollte, und nicht von vorneherein mein Herz so hartnäckig verschließen, wie Julia es gegenüber Paris getan hatte, nachdem ihr Romeo begegnet war. Aber ... womöglich zog ich voreilige Schlüsse. Vielleicht wollte er einfach nur mit mir reden. Worüber ich - ehrlich gesagt - ziemlich erleichtert wäre.
Als ich schließlich Schritte auf der Treppe hörte, erhob ich mich von meinen
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