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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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hinausströmenden Menschen bemerkt zu werden, und dann mutterseelenallein bis zum Einbruch der Dunkelheit wartete, bis Romeo gefahrlos kommen und sie holen konnte. Es war der einzige Ort, so hatte der Mönch ihr erklärt, wo die Wachen der Tolomeis nicht darauf achten würden, dass alle Familienmitglieder zusammenblieben, und da der Friedhof außerhalb der Stadtmauern lag, konnte Romeo sich dort bewegen, ohne ständig damit rechnen zu müssen, entdeckt und verhaftet zu werden.
    Aus der Grabstätte befreit, sollte Giulietta Romeo in die Verbannung begleiten. Sobald sie beide weit weg in Sicherheit waren, würden sie Bruder Lorenzo in einem geheimen Brief eine lange Geschichte der Gesundheit und des Glücks erzählen und ihn ermuntern, baldmöglichst nachzukommen.
    So lautete der Plan, auf den sie sich am Vorabend in San Cristoforo hastig geeinigt hatten. Erst jetzt, als es für Giulietta an der Zeit war zu handeln, begann sie die Einzelheiten dieses Plans in Frage zu stellen. Während sie die versiegelten Sarkophage betrachtete - allesamt riesige Gefäße des Todes -, die sie von allen Seiten umgaben, stieg ein Gefühl von Übelkeit in ihr hoch. Sie fragte sich, wie um alles in der Welt sie es schaffen sollte, sich davonzustehlen und zwischen ihnen zu verstecken, ohne dass jemand sie sah oder hörte.
    Erst ganz am Ende der Zeremonie, als der Priester alle aufforderte, mit gesenktem Kopf ein letztes Gebet zu sprechen, sah Giulietta ihre Chance, lautlos von ihrer inbrünstig betenden Familie abzurücken und sich hinter dem nächsten Sarkophag nie-derzukauern. Als der Priester alle Versammelten zum Abschluss der Zeremonie ein langgezogenes, melodisches Amen sprechen ließ, ergriff sie die Gelegenheit, auf allen vieren weiter in den Schatten hineinzukriechen. Die kühle, feuchte Erde unter ihren Fingern ließ sie schon jetzt vor Angst erzittern.
    Während sie gegen den rauen Stein eines Sarges gelehnt saß und die Luft anzuhalten versuchte, verließen die Trauernden nacheinander die Grabkammer. Im Hinausgehen stellten sie ihre Kerzen auf den kleinen Altar unter den Füßen des gekreuzigten Christus ab und traten dann ihren langen, tränenreichen Heimweg an. Nur wenige waren seit dem Palio am Vortag zum Schlafen gekommen, und wie Bruder Lorenzo ganz richtig vorhergesehen hatte, besaß niemand mehr die Geistesgegenwart, darauf zu achten, dass die Anzahl der Leute, die das Grab verließen, identisch war mit der Anzahl derer, die es betreten hatten. Welcher lebende Mensch würde schon freiwillig in solch einer übelriechenden Gruft des Grauens zurückbleiben, gefangen hinter einer schweren Tür, die sich von innen nicht öffnen ließ?
    Nachdem alle gegangen waren, fiel die Tür der Grabstätte mit einem dumpfen Geräusch zu. Obwohl auf dem Altar neben dem Eingang kleine Kerzen flackerten, hatte Giulietta das Gefühl, nun, da sie keuchend zwischen den Gräbern ihrer Ahnen hockte, in jeder Hinsicht von völliger Dunkelheit umgeben zu sein.
    Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Langsam begann sie zu begreifen, dass der Tod - mehr als alles andere - eine Angelegenheit des Wartens war. Hier lagen sie, all ihre hochmögenden Vorfahren, und erwarteten geduldig jenes göttliche Klopfen auf ihrem Sargdeckel, das ihren Geist zu dem neuen Leben erwecken würde, welches sie sich auf Erden niemals hatten vorstellen können.
    Einige würden in voller Rüstung hervorkommen, und vielleicht würde ihnen ein Arm, ein Bein oder ein Auge fehlen. Andere würden ihre Nachthemden tragen, von ihrer Krankheit gezeichnet und mit Beulen übersät. Andere waren vielleicht erst schreiende Säuglinge, und wieder andere ihre jungen Mütter, bedeckt mit Blut und Schleim ...
    Obwohl Giulietta nicht bezweifelte, dass es für jeden, der es verdiente, eines Tages ein solches Klopfen auf dem Sargdeckel geben würde, erfüllte sie der Anblick der alten Sarkophage und der Gedanke an all die schlafenden Jahrhunderte dennoch mit Entsetzen. Dann aber dachte sie, dass sie sich schämen sollte, Angst und Unruhe zu verspüren, während sie zwischen den reglosen Steinsärgen auf Romeo wartete. Was bedeuteten schon ein paar Stunden angesichts solcher Ewigkeit?
    Als die Tür zum Grab endlich aufschwang, waren die meisten Kerzen auf dem Altar bereits niedergebrannt, und die wenigen, die noch flackerten, warfen beängstigende, verzerrte Schatten, die fast schlimmer waren als die Dunkelheit. Giulietta lechzte so sehr danach, Romeos warme Haut zu berühren und ihre Lungen

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