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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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alle Gedanken an die arme alte Tante Rose erst einmal wegzuschieben. »Ich verstehe das nicht! Wo zum Teufel war Umberto?«
    »Ha!« Meine Frage ließ einen Teil von Janices altem Feuer wieder auflodern. »Du meinst, Luciano?« Sie warf einen Seitenblick zu mir herüber, um zu sehen, ob ich angemessen schockiert war. »Ja, genau. Der gute alte Birdie war ein Flüchtling, ein Desperado, ein Gangster ... du kannst es dir aussuchen. All die Jahre hat er sich in unserem Rosengarten versteckt, während draußen in der weiten Welt die Bullen und die Mafia hinter ihm her waren. Am Ende haben ihn seine alten Mafiakumpane wohl doch gefunden, und deswegen ist er einfach ...« - sie schnippte mit den Fingern ihrer freien Hand - »puff, verschwunden.«
    Atemlos blieb ich stehen. Ich musste heftig schlucken, weil mir Malèna Marescottis Spezialgebräu, das mich eigentlich fröhlich stimmte sollte, plötzlich wieder hochkam und dabei eher nach gebrochenem Herzen schmeckte. »Sein Name lautet aber nicht zufällig ... Luciano Salimbeni?«
    Vor lauter Schock über meine Erkenntnis vergaß Janice völlig, dass sie ihren linken Fuß nicht belasten konnte. »Meine Güte«, rief sie, während sie den Arm von meiner Schulter nahm, »du hast bei dieser ganzen Scheiße tatsächlich die Finger im Spiel!«
     
    Tante Rose hatte immer behauptet, sie habe Umberto wegen seines Kirschkuchens engagiert. Obwohl das bis zu einem gewissen Grad stimmte - er zauberte immer die unglaublichsten Nachspeisen -, verhielt es sich in Wirklichkeit eher so, dass sie ohne ihn völlig hilflos war. Er kümmerte sich ums Kochen, den Garten, einfach alles, was rund ums Haus anfiel. Noch bewundernswerter aber war, dass er dabei so tat, als wäre sein kleiner Beitrag gar nichts im Vergleich zu Tante Roses enormen Leistungen. Wie zum Beispiel dem Arrangieren der Blumen für den Esstisch. Oder dem Nachschlagen von schwierigen Worten im Oxford English Dictionary.
    Umbertos wahre Genialität lag in seiner Fähigkeit, uns das Gefühl zu geben, dass wir ganz und gar auf eigenen Beinen standen. Fast hatte es den Anschein, als hätte er sich irgendwie als Versager gefühlt, wenn es uns gelungen wäre, in all den Segnungen, die uns zuteilwurden, seine Hand zu erkennen. Er war wie ein Ganzjahres-Weihnachtsmann, der das Schenken nur dann genießen konnte, wenn die von ihm Beschenkten tief schliefen.
    Wie die meisten Dinge in unserer Kindheit war auch Umbertos ursprüngliches Auftauchen an der Schwelle unseres amerikanischen Lebens von einem Schleier des Schweigens verhüllt. Weder Janice noch ich konnten uns an eine Zeit erinnern, als er noch nicht dagewesen war. Wenn wir hin und wieder - kritisch beäugt vom Vollmond - in unseren Betten lagen und uns gegenseitig mit Erinnerungen an unsere exotische Kindheit in der Toskana zu übertrumpfen versuchten, gehörte Umberto seltsamerweise immer ins Bild.
    Auf eine gewisse Weise liebte ich ihn sogar mehr als Tante Rose, weil er stets meine Partei ergriff und mich seine kleine Prinzessin nannte. Obwohl er es nie klar aussprach, bin ich im Nachhinein sicher, dass wir alle gespürt haben, wie sehr er Janices immer üblere Manieren missbilligte und mir unauffällig den Rücken stärkte, wann immer ich mich dafür entschied, ihrem schlechten Beispiel nicht zu folgen.
    Jedes Mal, wenn Janice ihn um eine Gutenachtgeschichte bat, bekam sie irgendeine kurze Lektion präsentiert, bei der am Ende jemandem der Kopf abgeschlagen wurde. Wenn aber ich mich auf der Bank in der Küche zusammenrollte, holte er die blaue Dose mit den besonders feinen Keksen hervor und erzählte mir endlose Geschichten über Ritter, schöne Edelfräulein und vergrabene Schätze. Als ich dann älter und verständiger wurde, versicherte er mir, dass Janice ihre gerechte Strafe früh genug bekommen würde. Wohin sie sich im Leben auch wenden mochte, sie würde unweigerlich ein Stück Hölle mit sich schleppen, denn in seinen Augen war sie selbst die Hölle, und mit der Zeit würde sie begreifen, dass sie ihre eigene schlimmste Strafe darstellte. Ich dagegen war für ihn eine Prinzessin, und eines Tages würde ich - vorausgesetzt, ich schaffte es, verderbliche Einflüsse und unwiderrufliche Fehler zu vermeiden - einen schönen Prinzen kennenlernen und meinen eigenen magischen Schatz finden.
    Wie hätte ich ihn da nicht lieben sollen?
     
    Wir brauchten bis nach Mittag, um uns gegenseitig auf den neuesten Stand zu bringen. Janice erzählte mir, was die Polizei über Umberto

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