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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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stolperte. »Versuchst du mich eifersüchtig zu machen?«
    In dem Moment hatte ich sie plötzlich so satt, dass ich mitten auf der Piazza Postieria herumwirbelte und sie anfuhr: »Muss ich es dir wirklich buchstabieren? Ich versuche dich loszuwerden!«
    Während all unserer gemeinsamen Jahre hatte ich meiner Schwester schon wesentlich schlimmere Dinge an den Kopf geworfen. Vielleicht lag es an der ungewohnten Umgebung, dass es sie diesmal so hart traf, jedenfalls wirkte sie für den Bruchteil einer Sekunde, als bräche sie gleich in Tränen aus.
    Angewidert wandte ich mich ab und ging weiter. Ich hatte schon ein ganzes Stück Weg zurückgelegt, als ich sie - ein weiteres Mal - hinter mir herkommen hörte. Da ihre hohen Stiefel Pfennigabsätze hatten, rutschte sie auf dem Kopfsteinpflaster immer wieder ab.
    »Also gut«, rief sie, während sie mit den Armen ruderte, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, »das mit dem Motorrad tut mir leid. Und das mit dem Brief auch. Hörst du? Ich konnte ja nicht ahnen, dass du mir das so übelnehmen würdest.« Als sie merkte, dass ich weder antwortete noch langsamer wurde, eilte sie stöhnend weiter, schaffte es aber noch immer nicht, mich einzuholen. »Hör zu, Jules, ich weiß, dass du sauer auf mich bist, aber wir müssen wirklich reden. Über Tante Roses Testament, du weißt schon. Es war eine Fälsch- autsch'.«
    Offenbar war sie umgeknickt, denn als ich den Kopf wandte, saß Janice mitten auf der Straße und rieb sich den Knöchel.
    »Was hast du gesagt?«, fragte ich. Misstrauisch ging ich ein paar Schritte auf sie zu. »Wegen des Testaments?«
    »Du hast es doch gehört«, antwortete sie, während sie verdrossen ihren abgebrochenen Stiefelabsatz in Augenschein nahm, »die ganze Geschichte war eine Fälschung. Ich dachte, du steckst mit denen unter einer Decke. Deswegen habe ich mich hier auch nicht gleich zu erkennen gegeben, aber ... wie heißt es so schön? Im Zweifelsfall für den Angeklagten.«
     
    Wie ich nun erfuhr, war die Woche für meine böse Zwillingsschwester nicht besonders gut verlaufen. Mittlerweile hatte sie einen Arm um meine Schulter gelegt und humpelte mühsam neben mir her. Zuerst, so erzählte sie mir, habe sie feststellen müssen, dass unser angeblicher Familienanwalt, Mr. Gallagher, in Wirklichkeit gar nicht Mr. Gallagher war. Wie sie das herausgefunden hatte? Nun ja, der echte Mr. Gallagher war aufgetaucht. Zweitens war das Testament, das uns der falsche Anwalt nach der Beerdigung gezeigt hatte, eine komplette Fälschung gewesen. In Wirklichkeit hatte Tante Rose nichts zu vererben gehabt, und ihr Erbe anzutreten hätte bedeutet, nichts als Schulden zu übernehmen. Drittens waren am Tag nach meiner Abreise zwei Polizeibeamte aufgetaucht und hatten Janice fürchterlich in die Mangel genommen, weil sie das gelbe Band entfernt hatte. Was für ein gelbes Band? Nun ja, das Band, das sie um das Gebäude gewickelt hatten, nachdem ihnen klargeworden war, dass es sich um einen Tatort handelte.
    »Einen Tatort?« Obwohl die Sonne hoch am Himmel stand, lief es mir kalt den Rücken hinunter. »Du meinst, Tante Rose ist ermordet worden?«
    Janice zuckte mit den Achseln, so gut sie konnte, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. »Weiß der Kuckuck. Allem Anschein nach hatte sie am ganzen Körper Blutergüsse, obwohl sie doch angeblich im Schlaf gestorben ist.«
    »Janice!« Außer dieser Rüge wegen ihrer flapsigen Ausdrucksweise brachte ich kein Wort heraus. Die unerwartete Neuigkeit - dass Tante Rose womöglich gar nicht so friedlich gestorben war, wie Umberto es geschildert hatte - legte sich wie eine Schlinge um meinen Hals, so dass ich fast keine Luft mehr bekam.
    »Was ist?«, fauchte sie mit belegter Stimme. »Glaubst du vielleicht, es war lustig, die ganze Nacht in dem Verhörraum zu sitzen und ... immer wieder gelöchert zu werden, ob ich sie ...« - sie brachte die Worte kaum heraus - »ob ich sie wirklich geliebt habe oder nicht?«
    Während ich ihr Profil betrachtete, fragte ich mich, wann ich meine Schwester zum letzten Mal hatte weinen sehen. Mit ihrer verschmierten Wimperntusche und den vom Sturz ramponierten Klamotten wirkte sie auf einmal richtig menschlich, beinahe liebenswert. Vielleicht lag es auch an dem schmerzenden Knöchel, ihrem Kummer wegen Tante Rose, der ganzen Enttäuschung. Jedenfalls wurde mir plötzlich bewusst, dass nun zur Abwechslung mal ich die Stärkere von uns beiden sein musste. Ich versuchte, sie noch besser zu stützen und

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