Julia
Langweiler.
Jene Leute aber, die hinsichtlich Salimbenis Schuld noch immer nicht den Mund halten wollten, mussten zum Schweigen gebracht werden - entweder durch Gold, das er ihnen in die Hände drückte, oder durch Eisen, das er ihnen in den Rücken rammte. Denn nur, indem er solch böse Zungen zum Verstummen brachte, konnte Salimbeni jemals hoffen, vor den Menschen wieder unbescholten dazustehen und den Weg zurück in ihre Gebete zu finden, und somit auch in die heiligen Ohren des Himmels.
So lauteten die Empfehlungen der Universitätsgelehrten, und Salimbeni machte sich mit großem Eifer daran, ihren Vorschlägen nachzukommen. Als Erstes brachte er - gemäß ihren eigenen Ratschlägen - die Gelehrten zum Schweigen, ehe sie ihn verleumden konnten. Anschließend beauftragte er einen ortsansässigen Dichter damit, eine Erzählung über zwei vom Unglück verfolgte Liebende zu verfassen, deren tragischer Tod ganz allein ihre eigene Schuld war, und diese Geschichte unter das lesende Volk zu bringen - und zwar nicht als Dichtung, sondern als schändlich ignorierte Wahrheit. Schließlich erteilte Salimbeni dem großen Künstler Maestro Ambrogio die Oberaufsieht über die Arbeiten an der goldenen Skulptur. Sobald sie fertiggestellt war - und die kostbaren Steine saßen, wo sie hingehörten -, postierte er in der Kapelle vier bewaffnete Wachen, die Tag und Nacht auf das unsterbliche Paar aufpassten.
Doch nicht einmal die Skulptur und die Wachen konnten die Pest fernhalten. Über ein Jahr lang wütete die schreckliche Krankheit in Siena. Sie überzog gesunde Körper mit schwarzen Beulen und tötete jeden, der mit ihr in Berührung kam. Die halbe Bevölkerung fiel ihr zum Opfer - für jeden, der am Leben blieb, starb ein anderer. Am Ende reichten die Überlebenden nicht mehr aus, um die Toten zu begraben. Die Straßen waren überströmt von Fäulnis und Blut, und alle, die noch hätten essen können, mussten Hunger leiden, weil es nichts mehr zu kaufen gab.
Danach war die Welt eine andere geworden. Die Erinnerungen der Menschen waren ausgelöscht - die guten ebenso wie die schlechten. Wer überlebt hatte, war viel zu sehr mit seinen Angelegenheiten beschäftigt, um sich für Kunst und alte Klatschgeschichten zu interessieren, so dass auch die Geschichte von Romeo und Giulietta nur noch ein schwaches Echo aus einer anderen Welt darstellte, an das sich höchstens hin und wieder jemand erinnerte, und wenn, dann meist bruchstückhaft. Das Grab selbst war für immer verschwunden, begraben unter einem Berg des Todes, und nur noch ganz wenige Menschen wussten vom Wert der Skulptur. Maestro Ambrogio, der die Edelsteine persönlich angebracht hatte und ihre Geschichte bestens kannte, gehörte zu den vielen tausend Bewohnern Sienas, die durch die Pest ums Leben kamen.
Nachdem Monna Mina alles gehört hatte, was Monna Cecilia über Bruder Lorenzo wusste, kam sie zu dem Schluss, dass es doch noch etwas gab, was man tun konnte, um seinen Geist zu besänftigen. An einem Tag, an dem ihr Mann besonders verliebt in sie wirkte, ehe er losritt, um seinen Geschäften nachzugehen, erteilte sie sechs kräftigen Bediensteten den Auftrag, ihr in den Keller zu folgen und den Boden der alten Grabkammer aufzubrechen.
Verständlicherweise waren die Bediensteten nicht allzu glücklich über ihre gruselige Aufgabe, doch als sie sahen, wie geduldig ihre Herrin neben ihnen stehen blieb, während sie arbeiteten, und ihnen als Belohnung immer wieder Kuchen und Süßigkeiten in Aussicht stellte, wagten sie nicht zu murren.
Im Verlauf des Vormittags fanden sie nicht nur die Knochen von einem, sondern von mehreren Menschen. Beim Anblick dieser Spuren von Mord und Verstümmelung wurde zunächst allen übel, doch als sie sahen, dass Monna Mina sich - trotz ihrer Blässe - nicht von der Stelle rührte, überwanden sie bald ihr Grauen und griffen wieder nach ihren Werkzeugen, um die Arbeit fortzusetzen. Im weiteren Verlauf des Tages empfanden sie eine immer glühendere Bewunderung für die junge Frau, die so fest entschlossen war, das Haus von seinem Übel zu befreien.
Nachdem alle Knochen geborgen waren, ließ Monna Mina sie von den Bediensteten in Tücher hüllen und zum Friedhof bringen. Lediglich die jüngsten Überreste, von denen sie sicher war, dass es sich um die von Bruder Lorenzo handelte, behielt sie zurück. Da sie zunächst nicht recht wusste, wie sie damit verfahren sollte, setzte sie sich für eine Weile neben den Leichnam und betrachtete
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