Julia
Kraftreserven, während sie nun mit ihrer Last vor dem Aufruhr flohen und die holprige Straße in Richtung Siena entlangeilten. Die Räder des Karrens ächzten, und der Sarg wurde so heftig hin und her geschüttelt, dass er herabzufallen und in Stücke zu bersten drohte.
Da jeder Dialog mit den Pferden scheiterte, wandte sich Bruder Lorenzo dem Sarg zu, mit dem er leichter fertig zu werden hoffte. Unter Einsatz beider Hände und Füße versuchte er, ihn möglichst ruhig zu halten, doch während er sich noch abmühte, das störrische Ding richtig zu fassen zu bekommen, bemerkte er, dass sich auf der Straße hinter ihm etwas bewegte. Als er hochblickte, begriff er, dass das Wohl des Sarges in dem Moment wohl die kleinste seiner Sorgen sein sollte.
Denn ihm folgten zwei der Banditen, die eilends dahingaloppierten, um ihren Schatz zurückzufordern. Bruder Lorenzo, der hektisch versuchte, sich auf seine Verteidigung vorzubereiten, fand nur eine Peitsche und seinen Rosenkranz. Beklommen beobachtete er, wie einer der Banditen den Wagen allmählich einholte und - ein Messer zwischen seinen zahnlosen Gaumen - die Hand nach der hölzernen Seitenverkleidung des Karrens ausstreckte. Bruder Lorenzo, der plötzlich irgendwo in seinem sanftmütigen Selbst die nötige Härte fand, schwang die Peitsche nach dem enternden Piraten und hörte ihn vor Schmerz japsen, als der Ochsenschwanz in seine Haut schnitt. Der eine Schnitt aber reichte dem Banditen. Als Bruder Lorenzo erneut zuschlug, bekam der andere die Peitsche zu fassen und entriss sie ihm. Da Bruder Lorenzo außer seinem Rosenkranz mit dem baumelnden Kruzifix nichts mehr hatte, womit er sich schützen konnte, verlegte er sich darauf, seinen Gegner mit Essensresten zu bewerfen. Doch trotz der Härte des Brotes konnte er ihn auf Dauer nicht daran hindern, auf den Karren zu klettern.
Als der Schurke sah, dass dem Bruder die Munition ausgegangen war, richtete er sich in schadenfrohem Triumph auf, nahm das Messer aus seinem Mund und präsentierte seinem zitternden Opfer genüsslich die lange Klinge.
»Halt, im Namen von Jesus Christus!«, rief Bruder Lorenzo und hielt gleichzeitig seinen Rosenkranz hoch. »Ich habe Freunde im Himmel, die euch erschlagen werden!«
»Ach, tatsächlich? Ich kann sie nirgendwo sehen!«
In dem Moment schwang der Deckel des Sarges auf, und seine Insassin - eine junge Frau, die mit ihrem wilden Haar und ihren flammenden Augen wie ein Racheengel aussah - setzte sich sichtlich entrüstet auf. Ihr bloßer Anblick reichte aus, um den Banditen derart zu erschrecken, dass er sein Messer fallen ließ und kreidebleich wurde. Ohne zu zögern lehnte sich der Engel aus dem Sarg, griff nach dem Messer und stieß es seinem Besitzer unverzüglich ins Fleisch: so hoch hinauf in seinen Oberschenkel, wie der Zorn der jungen Frau reichte.
Vor Schmerz schreiend, verlor der verwundete Mann das Gleichgewicht und stürzte vom hinteren Ende des Karrens, wobei er sich noch schlimmere Verletzungen zuzog. Die junge Frau, deren Wangen vor Aufregung glühten, wandte sich mit einem Lachen zu Bruder Lorenzo um und wäre sogleich aus dem Sarg geklettert, wenn er sie nicht davon abgehalten hätte.
»Nein, Giulietta !«, rief er mit Nachdruck, während er sie zurück in den Sarg drückte, »im Namen Jesu, bleibt, wo Ihr seid, und verhaltet Euch ruhig!«
Nachdem er über ihrem entrüsteten Gesicht den Deckel zugeschlagen hatte, blickte sich Bruder Lorenzo nach dem zweiten Reiter um. Leider war der nicht so ein Heißsporn wie sein Gefährte und hatte folglich auch nicht die Absicht, auf den immer noch schnell dahinholpernden Wagen zu springen. Stattdessen galoppierte er voraus, um nach dem Geschirr zu greifen und das Tempo der Pferde zu drosseln. Zu Bruder Lorenzos großem Bedauern zeigte diese Maßnahme bald Wirkung. Nach ein paar Hundert Metern ließen sich die Pferde in einen leichten Galopp zwingen, bis sie schließlich nur noch trabten und am Ende ganz zum Stehen kamen.
Erst jetzt näherte sich der Schurke dem Wagen, und Bruder Lorenzo sah, dass es sich um niemand anderen als den prächtig gekleideten Anführer der Banditen handelte, der immer noch höhnisch grinste und das ganze Blutvergießen offenbar ohne Schaden überstanden hatte. Die untergehende Sonne verlieh dem Mann eine gänzlich unverdiente bronzene Aura. Bruder Lorenzo wurde bei seinem Anblick schlagartig bewusst, welch harter Kontrast zwischen der leuchtenden Schönheit der Landschaft und der puren Bosheit ihrer
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