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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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ziehen, nachdem man seinen eigenen Bruder ...« Die Stimme versagte ihr den Dienst.
    »Die meisten Menschen«, antwortete Romeo in einem Ton, der selbst in seinen eigenen Ohren fremd klang, »nennen Messer Tolomei einen mutigen Mann.«
    »Dann haben die meisten Menschen eben unrecht«, entgegnete sie, »und Ihr, Signore, verschwendet Eure Zeit. Ich tanze heute Abend nicht, das Herz ist mir zu schwer. Also kehrt zurück zu meiner Tante und erfreut Euch an ihren Liebkosungen, denn von mir werdet Ihr keine erhalten.«
    »Ich bin nicht gekommen«, erwiderte Romeo und trat dabei kühn einen Schritt auf sie zu, »um zu tanzen. Ich bin hier, weil ich nicht anders kann. Wollt Ihr mich denn nicht ansehen?«
    Sie ließ sich mit ihrer Antwort Zeit, wobei sie sich sichtlich zwingen musste, reglos stehen zu bleiben. »Warum soll ich Euch ansehen?«, fragte sie schließlich. »Ist Eure Seele so viel weniger wert als Euer Leib?«
    »Ich kannte meine Seele nicht«, erwiderte Romeo leise, »bis ich mein Spiegelbild in Euren Augen sah.«
    Wieder antwortete sie nicht sofort, doch als sie es dann tat, war ihr Ton scharf genug, um sein Selbstbewusstsein anzukratzen. »Wann habt Ihr meine Augen denn mit Eurem Bild entjungfert?
    Für mich seid Ihr nur die ferne Gestalt eines glänzenden Tänzers. Welcher Dämon stahl meine Augen und gab sie Euch?«
    »Schlaf heißt der Schuldige«, antwortete Romeo, während er weiter ihr Profil betrachtete und auf die Rückkehr ihres Lächelns wartete. »Er nahm sie von Eurem Kopfkissen und brachte sie mir. Oh, die süße Qual dieses Traums!«
    »Der Schlaf«, entgegnete das Mädchen, das sich immer noch hartnäckig weigerte, den Kopf nach ihm umzuwenden, »ist der Vater der Lügen!«
    »Aber die Mutter der Hoffnung.«
    »Vielleicht. Aber die Erstgeborene der Hoffnung ist die Tragödie.«
    »Ihr sprecht von ihr mit so liebevoller Vertrautheit, wie man es sonst nur bei Verwandten tut.«
    »O nein«, rief sie, vor Bitterkeit ganz schrill, »ich wage es nicht, mich solch hochwohlgeborener Verbindungen zu rühmen. Wenn ich einmal tot bin - vorausgesetzt, ich finde ein ehrenwertes, christliches Ende -, dann sollen die Gelehrten über meinen Stammbaum streiten.«
    »Euer Stammbaum kümmert mich nicht«, erwiderte Romeo, während er mutig einen Finger über ihren Hals gleiten ließ, »es sei denn, ich darf seine unsichtbare Schrift auf Eurer Haut nachzeichnen.«
    Seine Berührung brachte sie für einen Moment zum Schweigen. Als sie schließlich antwortete, straften ihre atemlosen Worte die Abfuhr, die sie ihm erteilen wollte, Lügen. »Dann fürchte ich«, erklärte sie über die Schulter hinweg, »dass Ihr enttäuscht sein werdet. Denn auf meiner Haut ist keine schöne Mär zu lesen, sondern eine Geschichte von Mord und Rache.«
    Ermutigt, weil sie seinen ersten Vorstoß zugelassen hatte, legte Romeo ihr die Hände auf die Schultern und beugte sich vor, um durch den seidigen Schleier ihres Haars zu sprechen. »Ich habe von Eurem Verlust gehört. Es gibt in Siena kein Herz, das nicht mit Euch leidet.«
    »O doch, das gibt es! Es wohnt im Palazzo Salimbeni, und es ist nicht zu menschlichen Gefühlen fähig!« Ungestüm schüttelte sie seine Hände ab. »Wie oft habe ich mir gewünscht, als Mann geboren zu sein!«
    »Als Mann geboren zu sein schützt nicht vor Kummer.«
    »Tatsächlich?« Endlich wandte sie sich zu ihm um, doch sie hatte für seinen ernsten Gesichtsausdruck nur Hohn übrig. »Und was bitte ist Euer Kummer?« Sie musterte ihn einen Moment von Kopf bis Fuß, ehe sie den Blick ihrer blauen Augen, die selbst in der Dunkelheit zu leuchten schienen, wieder auf sein Gesicht richtete. »Nein, wie ich schon vermutet hatte, seht Ihr zu gut aus, um Kummer zu kennen. Ihr habt eher die Stimme und das Gesicht eines Diebes.«
    Als sie seine entrüstete Miene sah, stieß sie ein scharfes Lachen aus und fuhr fort: »Ja, ein Dieb, aber einer, dem mehr gegeben wird, als er nimmt, und sich daher nicht für gierig, sondern für großzügig hält - für einen Freund, und nicht für einen Feind. Widersprecht mir, wenn Ihr könnt. Ihr seid ein Mann, dem nie ein Geschenk vorenthalten wurde. Wie könnte solch ein Mann je Kummer haben?«
    Romeo begegnete ihrem herausfordernden Blick mit Zuversicht. »Kein Mann ging je auf eine Reise, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Doch welcher Pilger sagt schon nein, wenn ihm unterwegs eine Mahlzeit und ein Bett angeboten werden? Macht mir die Länge meiner Reise nicht zum Vorwurf. Wäre

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