Julia
Endlich entdeckte Romeo in der Menge einen seiner Cousins und schaffte es, ihn mit einem scharfen Blick herbeizuholen. »Wo bist du gewesen?«, zischte er. »Siehst du denn nicht, dass ich hier fast sterbe?«
»Du schuldest mir Dank, nicht Tadel«, flüsterte der andere, während er Romeos Platz im Tanz übernahm, »denn das hier ist ein ödes Fest mit ödem Wein, öden Frauen und - warte!«
Doch Romeo hatte bereits die Flucht ergriffen. Taub für alle aufmunternden Worte und blind für die vorwurfsvollen Blicke der Witwe, stürmte er davon. Er wusste, dass einem kühnen Mann in einer Nacht wie dieser keine Türen verschlossen blieben. Da alle Bediensteten und Wachen im Erdgeschoss zu tun hatten, war alles, was darüber lag, für den Liebenden wie ein Waldteich für den Jäger: ein süße Verheißung für den Geduldigen.
Hier oben im ersten Stock machten die berauschenden Düfte, die vom Fest unten hochstiegen, selbst Weise närrisch und Geizkragen großzügig. Während Romeo die Galerie entlangging, kam er an vielen dunklen Nischen vorbei, aus denen das Rascheln von Seide drang, begleitet von halb unterdrücktem Kichern. Hier und dort verriet das Aufblitzen weißer Haut, dass Kleidungsstücke abgelegt wurden, und an einer Ecke, in der es besonders wollüstig zuging, wäre er beinahe stehengeblieben, fasziniert von der unendlichen Biegsamkeit des menschlichen Körpers.
Doch je weiter er die Treppe hinter sich ließ, desto stiller wurde es in den Ecken. Als er schließlich die Loggia über der Tanzfläche betrat, war dort kein Mensch mehr zu sehen. Wo vorhin halb verdeckt von einer Säule Giulietta gestanden hatte, gähnte nur noch Leere, und die verschlossene Tür am Ende der Loggia wagte selbst er nicht zu öffnen.
Seine Enttäuschung war groß. Warum war er nicht sofort von der Tanzfläche geflüchtet - blitzschnell wie eine Sternschnuppe, die der unendlichen Langeweile des Firmaments entfloh? Warum war er so sicher gewesen, dass sie hier auf ihn wartete? Wie töricht von ihm! Er hatte sich selbst eine Geschichte erzählt, und nun war es Zeit für das tragische Ende.
Genau in dem Moment, als er sich zum Gehen wandte, schwang die Tür am Ende der Loggia ein Stück auf, und heraus schlüpfte eine schlanke Gestalt - wie eine antike Dryade durch einen Spalt in der Zeit -, ehe sich die Tür mit einem dumpfen Geräusch wieder schloss. Obwohl einen Lidschlag lang keinerlei Bewegung und jenseits der unten erklingenden Musik auch kein Geräusch auszumachen war, bildete Romeo sich ein, jemanden atmen zu hören - jemanden, der bei seinem Anblick erschrocken zusammengezuckt war und nun dort drüben im Schatten verzweifelt um Atem rang.
Vielleicht hätte er eine beschwichtigende Bemerkung machen sollen, doch er war selbst viel zu aufgewühlt, um sich von guten Manieren Zügel anlegen zu lassen. Statt sein Eindringen zu entschuldigen oder sich zumindest vorzustellen - was noch ratsamer gewesen wäre, denn dann hätte sie wenigstens gewusst, wer der Eindringling war -, riss er nur seine Karnevalsmaske herunter und trat ungestüm einen Schritt vor. Am liebsten hätte er sie einfach aus dem Schatten gezogen, um endlich einen Blick auf das lebende Gesicht der Frau werfen zu können, die er ursprünglich für tot gehalten hatte.
Sie sprach ihn nicht an, wich aber auch nicht vor ihm zurück, sondern trat stattdessen an den Rand des Balkons und blickte auf die Tanzenden hinunter. Durch ihr Verhalten ermutigt, folgte Romeo ihrem Beispiel. Als sie sich ein wenig über die Balustrade beugte, kam er in den Genuss, ihr Profil durch die Lichter von unten beleuchtet zu sehen. Während Maestro Ambrogio die erhabene Schönheit ihrer Gesichtszüge vielleicht eine Spur übertrieben hatte, war es ihm zweifellos nicht gelungen, ihren leuchtenden Augen und ihrem geheimnisvollen Lächeln gerecht zu werden. Was die vollen Lippen betraf, durch die sie gerade hörbar die Luft einsog, hatte er es ohnehin Romeo selbst überlassen, ihre zarte Weichheit zu erkunden.
»Gewiss ist dies der berühmte Hof«, begann das Mädchen nun, »des Königs der Feiglinge.«
Überrascht von der Bitterkeit in ihrer Stimme, wusste Romeo nicht, was er antworten sollte.
»Wer sonst«, fuhr sie fort, ohne sich nach ihm umzuwenden, »würde die Nacht damit verbringen, hier Trauben an die Menge zu verfüttern, während draußen Mörder durch die Stadt stolzieren und sich ihrer Missetaten rühmen? Welch anständiger Mann könnte solch ein Fest auch nur in Betracht
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