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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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Ich tat es einfach. Sobald ich im Haus war, zog ich die Tür hinter mir zu und lehnte mich dagegen, während ich nervös lauschte, bis das Motorrad draußen vorbeigedonnert und schließlich in der Ferne verschwunden war.
    Zugegebenermaßen hatte ich den langhaarigen Maler ein wenig seltsam gefunden, als wir uns am Vortag im Kreuzgang über den Weg gelaufen waren, doch wenn man gerade von ruchlosen Gestalten durch mittelalterliche Gassen gehetzt wird, darf man nicht pingelig sein.
     
    Maestro Lippis Atelier war gewöhnungsbedürftig. Es sah dort aus, als wäre eine Bombe göttlicher Inspiration eingeschlagen, und zwar nicht nur einmal, sondern in regelmäßigen Abständen. Überall standen Gemälde, Skulpturen und bizarre Installationen. Offensichtlich reichte ein einziges Medium oder Ausdrucksmittel für die breit gefächerten Talente des Maestro nicht aus: Wie ein Sprachengenie bediente er sich jeweils des Idioms, das am besten zu seiner Stimmung passte, und wählte seine Werkzeuge und Materialien mit der Hingabe des Virtuosen. Mittendrin stand ein bellender Hund, der aussah wie die unwahrscheinliche Kreuzung aus einem flauschigen Schoßpudel und einem sich ganz und gar geschäftsmäßig gebärdenden Dobermann.
    »Ah«, sagte Maestro Lippi, der hinter einer Staffelei hervortrat, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, »da sind Sie ja. Ich habe mich schon gefragt, wann Sie wohl kommen würden.« Ohne ein weiteres Wort verschwand er wieder. Als er einen Moment später zurückkehrte, trug er ein Tablett mit einer Flasche Wein, zwei Gläsern und einem Laib Brot. Er musste lachen, weil ich immer noch wie angewurzelt an derselben Stelle stand. »Sie dürfen Dante nicht böse sein. Frauen gegenüber ist er immer misstrauisch.«
    »Er heißt Dante?« Ich blickte auf den Hund hinunter, der jetzt angetrabt kam, um mir einen schmierigen alten Hausschuh zu überreichen. Offenbar war das seine Art, sich dafür zu entschuldigen, dass er mich angebellt hatte. »Wie seltsam! So hieß doch auch der Hund von Maestro Ambrogio Lorenzetti!«
    »Tja, das hier ist sein Atelier.« Maestro Lippi schenkte mir ein Glas Rotwein ein. »Kennen Sie ihn?«
    »Sie meinen den Ambrogio Lorenzetti? Aus dem Jahr 1340?«
    »Natürlich!« Lächelnd hob Maestro Lippi sein Glas. »Schön, dass Sie wieder da sind. Auf dass wir noch oft so gemütlich zusammenkommen mögen. Lassen Sie uns auf Diana trinken!«
    Beinahe hätte ich mich an meinem Wein verschluckt. Er kannte meine Mutter?
    Ehe ich prusten oder sonst was tun konnte, beugte sich der Maestro wie ein Verschwörer zu mir vor. »Es gibt eine Legende über einen Fluss namens Diana, der ganz tief unter der Erde fließen soll. Wir haben ihn nie gefunden, aber etliche Leute behaupten, dass sie spätnachts manchmal aus einem Traum aufwachen und ihn dann spüren können. Außerdem gab es in der alten Zeit auf dem Campo einen Diana-Tempel. Die Römer haben dort ihre Spiele abgehalten, die Stierjagd und die Duelle. Heutzutage veranstalten wir den Palio zu Ehren der Jungfrau Maria. Sie ist die Mutter, die uns Wasser gibt, damit wir aus der Dunkelheit herauswachsen können wie Weinreben.«
    Für einen Moment standen wir einfach nur da und sahen uns an. Ich hatte das seltsame Gefühl, dass Maestro Lippi mir, hätte er gewollt, viele Geheimnisse über mich selbst, mein Schicksal und die Zukunft aller Dinge hätte erzählen können. Geheimnisse, für die ich mehrere Leben brauchen würde, wenn ich sie alle allein enträtseln wollte. Doch kaum war mir dieser Gedanke in den Sinn gekommen, flatterte er auch schon wieder davon, vertrieben vom wirren Lächeln des Maestro, der mir plötzlich das Weinglas aus der Hand nahm und es auf dem Tisch abstellte. »Kommen Sie, ich möchte Ihnen etwas zeigen! Wissen Sie, was ich meine? Ich habe Ihnen davon erzählt.«
    Er führte mich in einen anderen Raum, in dem sich - falls das überhaupt möglich war - noch mehr Kunstwerke stapelten als im Atelier selbst. Es handelte sich um einen Innenraum ohne Fenster, der wohl in erster Linie als Lagerraum diente. »Moment ...« Maestro Lippi schritt mitten durch das Chaos, um ein Stück Stoff von einem kleinen Bild zu ziehen, das gegenüber an der Wand hing. »Sehen Sie!«
    Ich trat ein paar Schritte vor, um einen besseren Blick zu haben, doch als ich dem Gemälde zu nahe kam, hielt der Maestro mich zurück. »Vorsicht! Sie ist sehr alt, Sie dürfen sie nicht anhauchen.«
    Es handelte sich um das Porträt eines Mädchens, eines

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