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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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schönen Mädchens mit großen blauen Augen, die verträumt in die Ferne blickten. Sie wirkte traurig, gleichzeitig aber auch hoffnungsvoll, und hielt eine Rose mit fünf Blütenblättern in der Hand.
    »Ich finde, sie sieht Ihnen ähnlich«, meinte Maestro Lippi, während er zwischen ihr und mir hin und her sah, »oder vielleicht ist es umgekehrt, und Sie sehen ihr ähnlich. Es sind nicht die Augen, auch nicht das Haar, aber ... irgendetwas anderes. Ich weiß nicht. Was meinen Sie?«
    »Ich finde, dass ich dieses Kompliment nicht verdiene. Wer hat das Bild gemalt?«
    »Ah!« Mit einem geheimnisvollen Lächeln beugte sich der Maestro zu mir. »Ich habe es gefunden, als ich das Atelier übernahm. Es war im Inneren der Wand in einer Metallkiste versteckt. Zusammen mit einem Buch, einem Tagebuch. Ich glaube ...« Noch ehe Maestro Lippi den Satz zu Ende gesprochen hatte, bekam ich an den Armen eine Gänsehaut, und ich wusste genau, was er sagen würde. »Nein, ich bin mir sogar sicher, das es Ambrogio Lorenzetti war, der die Kiste dort versteckt hat. Das Buch war sein Tagebuch. Und dieses Bild stammt meiner Meinung nach auch von ihm. Das Mädchen heißt genau wie Sie, Giulietta Tolomei. Er hat den Namen auf die Rückseite geschrieben.«
    Ich starrte auf das Gemälde. Kaum zu fassen, dass es sich tatsächlich um das Porträt handelte, von dem ich gelesen hatte. Es war genauso faszinierend, wie ich es mir vorgestellt hatte.
    »Sind Sie noch im Besitz des Tagebuchs?«
    »Nein, das habe ich verkauft. Ich habe einem Freund davon erzählt, der einem anderen Freund davon erzählte, und plötzlich taucht hier bei mir ein Mann auf, der es unbedingt kaufen will. Ein Professor, Professor Tolomei.« Maestro Lippi sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Sie sind auch eine Tolomei. Kennen Sie ihn? Er ist sehr alt.«
    Ich ließ mich auf den nächsten Stuhl sinken. Er hatte keine Sitzfläche, aber das kümmerte mich nicht. »Das war mein Vater. Er hat das Tagebuch ins Englische übersetzt. Ich lese es gerade. Es dreht sich hauptsächlich um sie ...« - ich nickte zu dem Gemälde hinüber -, »Giulietta Tolomei. Allem Anschein nach ist sie meine Vorfahrin. In dem Tagebuch beschreibt er ihre Augen ... und da sind sie.«
    »Habe ich es doch gewusst!« Maestro Lippi drehte sich mit kindlicher Freude zu dem Bild um. »Sie ist Ihre Vorfahrin!« Lachend wandte er sich wieder mir zu und nahm mich an den Schultern. »Ich freue mich so über Ihren Besuch!«
    »Ich verstehe nur nicht«, sagte ich, »warum Maestro Ambrogio es für nötig hielt, diese Dinge in der Wand zu verstecken. Oder vielleicht war das gar nicht er, sondern jemand anderer ...«
    »Machen Sie sich nicht so viele Gedanken«, warnte mich Maestro Lippi, »sonst bekommen Sie Falten im Gesicht.« Er schwieg einen Moment, als käme ihm gerade eine glorreiche Idee. »Wenn Sie mich das nächste Mal besuchen, male ich Sie. Wann besuchen Sie mich wieder? Morgen?«
    »Maestro ...« - mir war klar, dass ich mich seines Wissens bemächtigen musste, solange der Orbit seines Bewusstseins noch Kontakt mit der Realität hatte - »ich wollte Sie eigentlich fragen, ob ich heute ein bisschen länger bleiben könnte. Über Nacht.«
    Er bedachte mich mit einem eigenartigen Blick, als zeigte nicht er, sondern ich Anzeichen für beginnenden Wahnsinn.
    Ich hatte das Gefühl, mich näher erklären zu müssen. »Jemand ist hinter mir her. Ich habe keine Ahnung, warum. Ein Mann ...« Kopfschüttelnd fügte ich hinzu: »Ich weiß, es klingt verrückt, aber irgendjemand verfolgt mich, und ich weiß nicht, warum.«
    »Aha«, antwortete Maestro Lippi. Ganz vorsichtig drapierte er den Stoff wieder über das Porträt von Giulietta Tolomei und führte mich dann zurück ins Atelier. Dort ließ er mich auf einem Stuhl Platz nehmen und drückte mir wieder mein Weinglas in die Hand, ehe er sich ebenfalls niederließ und mich mit der erwartungsvollen Miene eines Kindes musterte, das eine Geschichte hören wollte. »Ich glaube, Sie wissen es sehr wohl. Erzählen Sie mir, warum er Ihnen folgt.«
    Während der nächsten halben Stunde erzählte ich ihm die ganze Geschichte. Anfangs hatte ich das gar nicht vor, aber nachdem ich erst einmal dabei war, konnte ich nicht mehr aufhören. Der Maestro hatte so eine Art, mich anzusehen - mit funkelnden Augen und einem gelegentlichen Nicken -, dass ich das Gefühl bekam, er könnte mir vielleicht helfen, die hinter alledem verborgene Wahrheit herauszufinden. Falls es

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