Julia
überhaupt eine gab.
Deswegen erzählte ich ihm von meinen Eltern und den Unfällen, durch die sie ums Leben gekommen waren. Ich deutete auch an, dass ein Mann namens Luciano Salimbeni unter Umständen in beiden Fällen die Hand im Spiel gehabt hatte. Dann berichtete ich ihm von der Truhe meiner Mutter und Maestro Ambrogios Tagebuch, und bei der Gelegenheit erwähnte ich auch, dass mein Cousin Peppo auf einen verschollenen Schatz namens >Julias Augen< angespielt hatte. »Haben Sie jemals davon gehört?«, fragte ich, als ich sah, dass Maestro Lippi plötzlich die Stirn runzelte.
Statt einer Antwort erhob er sich und blieb einen Moment reglos stehen, den Kopf in die Luft gereckt, als lauschte er einem Ruf aus der Ferne. Als er sich daraufhin in Bewegung setzte, war mir klar, dass ich ihm folgen musste. Ich blieb ihm dicht auf den Fersen, während er in einen anderen Raum und dann eine Treppe hinauf ging. Schließlich gelangten wir in eine lange, schmale Bibliothek mit durchhängenden Bücherregalen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Dort blieb mir nichts anderes zu tun, als zuzusehen, wie der Maestro unzählige Male hin und her wanderte - offenbar auf der Suche nach einem bestimmten Buch, das nicht aufgespürt werden wollte. Als er schließlich doch fündig wurde, riss er es aus dem Regal und hielt es triumphierend hoch. »Ich wusste doch, dass es mir hier schon mal irgendwo untergekommen war!«
Wie sich herausstellte, handelte es sich bei dem Buch um eine alte Enzyklopädie legendärer Ungeheuer und Schätze - denn anscheinend gehört beides zusammen und lässt sich nicht voneinander trennen. Als der Maestro darin herumblätterte, erhaschte ich kurze Blicke auf etliche Illustrationen, die mehr mit Märchen als mit meinem bisherigen Leben zu tun hatten.
»Da«, rief er aus und deutete aufgeregt auf einen Eintrag, »was sagen Sie dazu?« Da er nicht warten konnte, bis wir wieder unten waren, schaltete er eine wackelige Stehlampe an und las mir den Text in einer bunten Mischung aus Italienisch und Englisch vor.
Die Quintessenz des Ganzen war, dass es sich bei Julias Augen um ein Paar ungewöhnlich großer Saphire aus Äthiopien handelte, die ursprünglich >Die äthiopischen Zwillinge< hießen und im Jahre 1340 von Messer Salimbeni aus Siena als Verlobungsgeschenk für seine zukünftige Braut erstanden wurden, Giulietta Tolomei. Nach Giuliettas tragischem Tod wurden die Saphire einer goldenen Skulptur, die an ihrem Grab stand, als Augen eingesetzt.
»Hören Sie sich das an!« Aufgeregt ließ Maestro Lippi einen Finger über die Seite gleiten. »Shakespeare wusste ebenfalls von der Skulptur!« Er begann ein paar Zeilen aus der Schlussszene von Romeo und Julia zu übersetzen, die in der Enzyklopädie auf Italienisch zitiert wurden:
... denn ich will
Aus klarem Gold ihr Bildnis fert'gen lassen.
So lang Verona seinen Namen trägt,
Komm nie ein Bild an Wert dem Bilde nah
Der treuen, liebevollen Julia.
Und dann zeigte mir Maestro Lippi die Illustration auf der betreffenden Seite. Ich erkannte sie sofort wieder. Es handelte sich um eine Skulptur, die einen Mann und eine Frau darstellte. Der Mann kniete und hielt die Frau in seinen Armen. Abgesehen von ein paar kleinen Details war es genau dieselbe Statue, die meine Mutter in dem Notizbuch, das ich in ihrer Truhe gefunden hatte, mindestens zwanzigmal zu zeichnen versucht hatte.
»Heiliger Strohsack!« Ich sah mir die Zeichnung noch genauer an. »Steht da etwas darüber, wo sich ihr Grab befindet?«
»Welches Grab?«
»Das von Julia, besser gesagt, Giulietta.« Ich deutete auf den Text, den er mir gerade vorgelesen hatte. »In dem Buch heißt es doch, an ihrem Grab sei eine goldene Skulptur aufgestellt worden ... aber es war nicht die Rede davon, wo sich das Grab befindet.«
Maestro Lippi klappte das Buch wieder zu und schob es aufs Geratewohl in irgendein Regal zurück. »Warum wollen Sie ihr Grab ausfindig machen?« Sein Ton klang plötzlich feindselig. »Um ihr die Augen wegzunehmen? Wie soll sie denn ohne Augen ihren Romeo erkennen, wenn er kommt, um sie zu erwecken?«
»Ich würde ihr doch nicht die Augen wegnehmen!«, protestierte ich. »Ich möchte sie nur ... sehen.«
»Tja«, meinte der Maestro, während er die wackelige Lampe ausschaltete, »da müssen Sie wohl Romeo fragen. Ich wüsste nicht, wer sonst in der Lage sein sollte, das Grab zu finden. Aber seien Sie vorsichtig. Es gibt hier viele Geister, und nicht alle sind so freundlich wie
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