Julia
verleiht einer Frau ... Sie wissen schon, Charakter.«
»Eine wilde Kreatur«, bemerkte ich mit einem Blick auf den Brunnen draußen. »Was ist denn das für eine Sorte Vogel?«
»Unser Adler, aquila auf Italienisch. Der Brunnen ist unser ... wie sagt man noch mal?« Sie biss sich auf die Lippe, weil ihr das richtige Wort nicht einfiel, »fonte battesimale ... unser Taufbrunnen? Ja! Dorthin bringen wir unsere Babys, damit sie aquilini werden, kleine Adler.«
»Wir sind hier in der Adler-Contrada?« Während ich den Blick über die anderen Gäste schweifen ließ, bekam ich plötzlich eine Gänsehaut. »Stimmt es, dass der Adler ursprünglich das Symbol der Familie Marescotti war?«
»Ja«, nickte sie, »aber natürlich haben wir es nicht erfunden. Der Adler stammt ursprünglich von den Römern. Dann hat ihn Karl der Große übernommen, und da die Marescottis in seiner Armee dienten, hatten wir das Recht, dieses kaiserliche Symbol zu verwenden. Aber das weiß heute niemand mehr.«
Überrascht starrte ich sie an. Ich war mir fast sicher, dass sie von den Marescottis gesprochen hatte, als wäre sie selbst eine. Leider schob sich genau in dem Moment, als ich sie danach fragen wollte, das grinsende Gesicht eines Kellners zwischen uns. »Es sei denn, man hat das Glück, hier zu arbeiten. Wir wissen alles über ihren großen Vogel.«
»Ignorieren Sie ihn einfach«, sagte Malèna, die so tat, als wollte sie ihm ein Tablett auf den Kopf schlagen. »Er kommt aus der Contrada della Torre - dem Viertel des Turms.« Sie schnitt eine Grimasse. »Ein richtiger Scherzkeks.«
Trotz der allgemeinen Heiterkeit fiel mir aus dem Augenwinkel irgendetwas auf. Wie ich bei genauerem Hinsehen feststellte, war draußen ein schwarzes Motorrad stehengeblieben. Der Fahrer trug einen Helm mit heruntergeklapptem Visier, aber ich hatte trotzdem den Eindruck, dass er einen raschen Blick durch die Glastür des Cafes warf, eher er wieder lautstark Gas gab und davondonnerte.
»Ducati Monster S4«, ratterte der Kellner herunter, als hätte er eine Zeitschriftenwerbung auswendig gelernt, »eine richtige Straßenkämpferin. Sie lässt Männer von Blut träumen, und wenn sie dann schweißgebadet aufwachen, versuchen sie nach ihr zu greifen, aber sie hat keine Griffe zum Festhalten. Deswegen ...« - er tätschelte mit vielsagender Miene seinen Bauch - »darf man kein Mädchen mitfahren lassen, es sei denn, man verfügt über ein Sixpack-Antiblockiersystem.«
»Basta, basta, Dario!«, schalt ihn Malèna. »Tu parli di nien-tel«
»Kennen Sie den Typen auf dem Motorrad?«, fragte ich so lässig wie möglich, auch wenn mir alles andere als lässig zumute war.
»Den?« Sie verdrehte unbeeindruckt die Augen. »Wie heißt es so schön? Viel Getöse, nichts in der Hose.«
»Ich mache nicht viel Getöse!«, protestierte Dario.
»Ich habe doch nicht dich gemeint, stupido, sondern den moscerino auf dem Motorrad!«
»Kennen Sie ihn?«, fragte ich noch einmal.
Sie zuckte mit den Achseln. »Ich mag lieber Männer mit Autos. Männer mit Motorrädern sind ... Playboys. Natürlich kann so einer seine Freundin mit aufs Motorrad setzen, aber was ist mit den Kindern, den Brautjungfern und der Schwiegermutter?«
»Genau meine Rede«, sagte Dario und wackelte dabei mit den Augenbrauen. »Deswegen spare ich auf ein Motorrad.«
Mittlerweile wurden in der Schlange hinter mir mehrere andere Gäste hörbar ungeduldig. Obwohl Malèna sich allem Anschein nach recht wohl dabei fühlte, sie alle zu ignorieren, solange es ihr Spaß machte, beschloss ich, meine Fragen über die Marescottis und ihre eventuell noch lebenden Nachkommen auf einen anderen Tag zu verschieben.
Beim Verlassen der Bar hielt ich nach dem Motorrad Ausschau, konnte es aber nirgendwo entdecken. Natürlich wusste ich es nicht mit Sicherheit, aber meine Intuition sagte mir, dass es derselbe Typ gewesen war, der mich schon vergangene Nacht belästigt hatte. Falls er tatsächlich nur eine weibliche Mitfahrerin suchte, die ihre Arme um seinen Waschbrettbauch schlang, konnte ich mir ehrlich gesagt eine bessere Art vorstellen, um mit der Auserwählten ins Gespräch zu kommen.
Als die Besitzerin der Buchhandlung endlich vom Mittagessen zurückkam, saß ich schon eine ganze Weile bei ihr auf der Treppe, den Rücken gegen die Tür gelehnt. Ich war nahe dran gewesen, das ganze Unterfangen abzubrechen, doch am Ende wurde meine Geduld belohnt, denn die Frau - eine liebe alte Dame, deren dürre Gestalt wohl
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