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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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hinter dem Regal hervorzulugen, sah ich ihn gerade lautlos in das Gewölbe hineingleiten.
    Mit zitternden Fingern streifte ich meine Schuhe ab und huschte bis ans Ende des Ganges. Beim Pult des Bibliothekars angekommen, bog ich um die Ecke und eilte die Treppe hinauf, wobei ich jeweils drei Stufen auf einmal nahm und mich kein einziges Mal umblickte.
    Erst, als ich in sicherer Entfernung vom Universitätsgelände in irgendeine kleine Gasse eingebogen war, lief ich ein wenig langsamer. Ein Gefühl der Erleichterung durchflutete mich. Allerdings hielt es nicht lange an. Höchstwahrscheinlich handelte es sich bei meinem Verfolger um denselben Kerl, der auch mein Hotelzimmer verwüstet hatte, und das einzig Positive daran war, dass ich nicht schlafend im Bett gelegen hatte, als er dort auftauchte.
     
    Dass ich dem Eulenmuseum schon so bald einen zweiten Besuch abstattete, überraschte Peppo Tolomei fast ebenso sehr wie mich selbst. »Giulietta!«, rief er und legte den Lappen weg, mit dem er gerade einen Pokal gereinigt hatte. »Was ist mit dir? Und was hast du da?«
    Wir starrten beide auf das unordentliche Bündel in meinen Armen. »Das weiß ich selbst nicht so genau«, gestand ich, »aber ich glaube, es hat meinem Vater gehört.«
    »Hier ...« Er räumte auf dem Tisch ein wenig Platz für mich frei. Behutsam legte ich die blaue Seide ab und zog das darin eingehüllte Messer heraus.
    »Hast du eine Ahnung, woher das stammen könnte?«, fragte ich ihn.
    Doch Peppo schenkte dem Messer keinerlei Beachtung. Stattdessen faltete er voller Ehrfurcht die Seide auseinander. Als der Stoff schließlich ganz ausgebreitet vor ihm lag, trat er überwältigt einen Schritt zurück und bekreuzigte sich. »Wo um alles in der Welt«, fragte er in einem Ton, der kaum mehr als ein Flüstern war, »hast du das gefunden?«
    »Ähm ... in der Sammlung meines Vaters an der Universität. Der Stoff war um das Messer gewickelt. Mir war gar nicht klar, dass es sich dabei um etwas Besonderes handelt.«
    »Du weißt nicht, was das ist?«
    Ich sah mir das blaue Rechteck aus Seide etwas genauer an. Es war um einiges länger als breit, fast wie ein Banner, und mit einer Frauengestalt bemalt, deren Haar von einem Heiligenschein umgeben war. Die Frau hatte die Hände zum Gebet erhoben und wirkte - trotz ihrer von der Zeit ausgebleichten Farben - immer noch sehr beeindruckend. Selbst ein Banause wie ich konnte erkennen, dass es sich um eine Abbildung der Jungfrau Maria handelte. »Ist das eine Art religiöse Fahne?«
    »Das«, antwortete Peppo, während er sich voller Ehrfurcht aufrichtete, »ist ein Cencio, der große Preis beim Palio. Aber ein sehr alter. Siehst du die römischen Ziffern unten in der Ecke? Das ist die Jahreszahl.« Er beugte sich wieder hinunter, um die Zahl besser entziffern zu können. »Ja! Santa Maria!« Mit leuchtenden Augen drehte er sich zu mir um. »Das hier ist nicht nur ein uralter Cencio, sondern der legendenumwobendste Cencio, den es jemals gab! Alle haben geglaubt, er wäre für immer verloren. Aber hier ist er! Der Cencio des Palio von 1340. Ein großer Schatz! Seine Kante war besetzt mit kleinen ... kleinen Schweifen von einem Tier, dessen Name mir gerade nicht einfällt. Auf Italienisch heißt es vaio. Schau ...« - er deutete auf die fransige Kante des Stoffes, »hier waren welche, und hier auch. Keine Eichhörnchenschweife. So ähnlich. Aber sie sind nicht mehr da.«
    »Was«, fragte ich, »wäre so etwas wert? Wie viel Geld, meine ich?«
    »Geld?« In solchen Kategorien dachte Peppo nicht. Er starrte mich an, als hätte ich ihn nach dem Stundenlohn von Jesus gefragt. »Aber der Cencio selbst ist doch der Preis ! Etwas ganz Besonderes ... eine große Ehre. Seit dem Mittelalter bekam der Gewinner des Palio immer ein schönes, mit einem kostbarem Pelzrand besetztes Seidenbanner. Die Römer nannten es Pallium, deswegen heißt unser Rennen noch heute Palio. Schau ...« Er deutete mit seinem Gehstock auf einige der Banner, die um uns herum an der Wand hingen. »Jedes Mal, wenn unser Viertel den Palio gewinnt, bekommen wir einen neuen Cencio für unsere Sammlung. Die ältesten, die wir hier haben, sind zweihundert Jahre alt.«
    »Dann habt ihr also keine anderen Cenci aus dem 14. Jahrhundert?«
    »O nein!« Peppo schüttelte heftig den Kopf. »Dieser hier ist etwas ganz, ganz Besonderes. In der alten Zeit war es nämlich üblich, dass sich der Sieger des Palio aus dem Cencio Kleidungsstücke nähen ließ und voller Stolz

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