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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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fiel, gefolgt von einem kleinen, rechteckigen Kärtchen. Nachdem er die Truhe umgedreht hatte, nahmen wir das Geheimfach gemeinsam in Augenschein, doch abgesehen von der Karte war es leer.
    »Verstehen Sie das?« Ich zeigte Direttor Rossini die Buchstaben und Zahlen, die mit einer altmodischen Schreibmaschine auf die Karte getippt waren. »Sieht aus wie eine Art Code.«
    »Das«, sagte er, während er sie mir aus der Hand nahm, »ist eine alte - wie sagt man noch mal in Ihrer Sprache? - Karteikarte. Solche Karten haben wir benutzt, als es noch keine Computer gab. Das war vor Ihrer Zeit. Ach, wie sich die Welt verändert hat! Ich weiß noch genau, wie es war, als ...«
    »Haben Sie eine Ahnung, woher sie stammen könnte?«
    »Diese hier? Vielleicht aus einer Bibliothek? Keine Ahnung. Ich bin da kein Experte. Aber ...« - er musterte mich abschätzend, als versuchte er herauszufinden, ob ich solch höherer Weihen überhaupt würdig war - »ich weiß jemanden, der sich mit derartigen Dingen auskennt.«
     
    Ich brauchte eine Weile, um das winzige Antiquariat aufzuspüren, das mir Direttor Rossini beschrieben hatte, und als ich es schließlich fand, war es - wie hätte es anders sein sollen - über die Mittagspause geschlossen. Ich spähte durch die Fenster, um herauszufinden, ob vielleicht doch jemand da war, sah aber nur Bücher und noch mehr Bücher.
    Um mir die Zeit zu vertreiben, spazierte ich zur Piazza del Duomo hinüber, die gleich um die Ecke lag, und ließ mich auf der Treppe der Kathedrale von Siena nieder. Trotz der vielen Touristen, die durch die Kirchentore ein und aus strömten, strahlte dieser Ort eine besondere Ruhe aus - irgendetwas Erdverbundenes, Ewiges, was mir das Gefühl gab, dass ich, müsste ich nicht eine Mission erfüllen, genau wie das Gebäude selbst endlos dort verharren könnte, um mit einer Mischung aus Wehmut und Anteilnahme die fortwährende Wiedergeburt der Menschheit zu beobachten.
    Das auffallendste Merkmal der Kathedrale war ihr Glockenturm. Er war zwar nicht so hoch wie der Mangia-Turm, Direttor Rossinis männliche Lilie auf dem Campo, aber aufgrund der Tatsache, dass er Zebrastreifen aufwies, dennoch der bemerkenswertere von beiden. Schmale Schichten aus weißem und schwarzem Stein wechselten sich bis zur Spitze hinauf ab, als führte eine Treppe aus Biskuit in den Himmel. Zwangsläufig drängte sich mir die Frage nach dem Symbolgehalt des Musters auf. Vielleicht hatte es ja gar nichts zu bedeuten? Womöglich war es nur angelegt worden, um dem Turm ein spektakuläres Aussehen zu verleihen. Oder es sollte das Wappen von Siena widerspiegeln, die Balzana, die teils schwarz, teils weiß war wie ein stielloses, zur Hälfte mit dunklem Rotwein gefülltes Glas - und für mich genauso befremdlich wie das Muster des Turms.
    Zwar hatte mir Direttor Rossini die Geschichte von den römischen Zwillingen erzählt, die ihrem bösen Onkel auf einem schwarzen und einem weißen Pferd entkamen, doch ich war keineswegs davon überzeugt, dass die Farben der Balzana darauf beruhten. Meiner Meinung nach hatte es etwas mit Gegensätzen zu tun - mit der gefährlichen Kunst, Extreme zu vereinen und Kompromisse zu erzwingen. Oder vielleicht spiegelte es die Erkenntnis wider, dass das Leben ein fragiles Gleichgewicht großer Kräfte darstellte und das Gute an Wirksamkeit verlieren würde, wenn es auf der Welt nichts Böses mehr zu bekämpfen gäbe.
    Aber ich war keine Philosophin. Außerdem ließ mich die Sonne allmählich spüren, dass nun die Tageszeit anbrach, in der sich nur Verrückte und Engländer ihren Strahlen aussetzten. Nachdem ich das kurze Wegstück zurückgegangen war, musste ich feststellen, dass der Buchladen immer noch geschlossen hatte. Seufzend warf ich einen Blick auf die Uhr und fragte mich, wo ich Zuflucht vor der Hitze suchen sollte, bis die Jugendfreundin von Direttor Rossinis Mutter sich herabließ, ihre Mittagspause zu beenden.
     
    Die Luft in der Kathedrale von Siena war erfüllt von Gold und Schatten. Rund um mich herum ragten massive, schwarzweiße Säulen zu einem Deckengewölbe empor, das mit kleinen Sternen übersät war. Das Mosaik des Kirchenbodens wirkte wie ein riesiges Puzzle aus Symbolen und Legenden, die ich zwar irgendwie kannte - so, wie man auch den Klang einer fremden Sprache kennt -, aber nicht verstand.
    Obwohl sich dieser Ort von den modernen Kirchen meiner Kindheit unterschied wie eine Religion von einer anderen, spürte ich dennoch, wie mein Herz seltsam

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