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Julia

Julia

Titel: Julia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Fortier
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ein paar Dutzend mittelgroßen Schubladen, an die niemand herankam und auch niemand einen Gedanken verschwendete, es sei denn, die betreffende Person hatte eine Leiter und wusste genau, wonach sie suchte. Zunächst fühlte es sich an, als wäre Schublade Nummer 17b abgeschlossen. Erst, nachdem ich ein paarmal mit der Faust dagegengeschlagen hatte, löste sie sich und ließ sich aufziehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte kein Mensch mehr Schublade Nummer 17b herausgezogen, seit mein Vater sie Jahrzehnte zuvor geschlossen hatte.
    Sie enthielt ein großes, in luftdichte braune Plastikfolie gehülltes Päckchen. Vorsichtig tastete ich daran herum. Der Inhalt fühlte sich schwammig an, fast wie Schaumstoff. Fasziniert nahm ich das Päckchen aus der Schublade, stieg von der Leiter und ließ mich auf der untersten Sprosse nieder, um meinen Fund zu inspizieren.
    Da ich nicht gleich das ganze Ding aufreißen wollte, machte ich erst einmal mit einem Fingernagel ein kleines Loch in die Plastikhülle. Nun, da seine luftdichte Verpackung zerstört war, schien das Päckchen tief Luft zu holen, und durch das Loch lugte ein kleines Stück eines blassblauen Stoffes heraus. Nachdem ich die Öffnung ein wenig vergrößert hatte, befühlte ich den Stoff mit den Fingern. Ich war zwar keine Expertin, vermutete aber, dass er aus Seide war und - trotz seines guten Zustandes -sehr, sehr alt.
    Obwohl ich genau wusste, dass ich etwas höchst Empfindliches gleichzeitig Licht und Luft aussetzte, befreite ich den Stoff aus seiner Plastikhülle und faltete ihn auf meinem Schoß auseinander. Dabei fiel etwas heraus und landete mit einem metallischen Klirren auf dem Linoleumboden.
    Es handelte sich um ein großes Messer in einer goldenen Scheide, das zwischen den Falten der Seide gesteckt hatte. In den Griff war ein Adler eingraviert.
    Während ich so dasaß und diesen unerwarteten Schatz in der Hand hielt, hörte ich aus dem anderen Teil des Archivs plötzlich ein Geräusch. Da mir nur allzu bewusst war, dass ich mich unberechtigterweise an einem Ort aufhielt, wo zweifellos zahlreiche unersetzbare Schätze gelagert wurden, fuhr ich mit einem schuldbewussten Keuchen hoch und raffte meine Beute zusammen, so gut ich konnte. Auf keinen Fall wollte ich in diesem noblen, klimatisierten Gewölbe in flagranti erwischt werden, während mir sozusagen noch die Federn des von mir erbeuteten Kanarienvogels aus dem Mund ragten.
    So leise wie möglich schlich ich zurück in die Hauptbibliothek, wobei ich die Metalltür nur einen winzigen Spalt offen ließ. Hinter die letzte Regalreihe gekauert, lauschte ich aufmerksam, konnte jedoch nur meinen eigenen unregelmäßigen Atem hören. Nun musste ich nur noch zur Treppe hinübergehen und das Gebäude so unauffällig verlassen, wie ich es betreten hatte.
    Wie sich herausstellte, war das ein Trugschluss. Genau in dem Moment, als ich beschloss, mich in Bewegung zu setzen, hörte ich plötzlich Schritte - nicht die Schritte eines Bibliothekars, der aus der Pause zurückkam, oder eines Studenten auf der Suche nach einem Buch, sondern die verstohlenen Schritte eines Menschen, der nicht wollte, dass ich ihn kommen hörte, weil seine Anwesenheit in dem Archiv noch dubiosere Gründe hatte als meine eigene. Vorsichtig spähte ich zwischen den Regalen hindurch - und sah ihn direkt auf mich zukommen. Es war derselbe Kerl, der mich schon die ganze Zeit verfolgte. Den Blick auf die Metalltür gerichtet, die in das alte Gewölbe führte, schlich er von Bücherregal zu Bücherregal. Allerdings hatte er dieses Mal eine Schusswaffe in der Hand.
    In wenigen Sekunden würde er die Reihe erreichen, hinter der ich mich versteckte. Vor Angst war mir ganz übel. Mit angehaltenem Atem drückte ich mich an dem Bücherregal entlang, bis ich sein seitliches Ende erreicht hatte. Hier führte ein schmaler Gang bis ganz nach vorne zum unbesetzten Pult des Bibliothekars. Auf Zehenspitzen schlich ich so weit, wie ich mich traute, lehnte mich dann gegen die schmale Seite eines Bücherregals und zog den Bauch ein - in der Hoffnung, dass nichts von mir zu sehen sein würde, wenn der Kerl auf dem Gang am anderen Ende des Raumes an mir vorbeiging.
    Während ich dort stand und vor Angst die Luft anhielt, musste ich gegen den starken Drang ankämpfen, einfach loszurennen. Statt diesem Fluchtinstinkt nachzugeben, zwang ich mich, noch ein paar Sekunden lang völlig reglos stehen zu bleiben. Als ich es schließlich wagte, ein wenig den Hals zu recken und

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