Julia
sie gerade mit einem Mann sprachen, der die Selbstsicherheit und den Großmut eines Kaisers ausstrahlte, gleichzeitig aber die Augen eines mageren, hungrigen Raubtiers besaß. Besonders beunruhigend fand sie, dass diese Augen -von wenigen Unterbrechungen abgesehen - ständig auf sie gerichtet waren.
Nachdem sie sich hinter eine Säule geflüchtet hatte, holte sie ein paarmal tief Luft und sagte sich, dass schon alles gut werden würde. An diesem Morgen hatte Bruder Lorenzo ihr einen Brief von Romeo gebracht, in dem stand, dass sein Vater, Comandante Marescotti, sobald wie möglich an ihren Onkel herantreten und im Namen seines Sohnes um ihre Hand anhalten würde. Seit dem Eintreffen des Briefes hatte sie kaum noch etwas anderes getan, als zu beten und Gott anzuflehen, er möge doch dafür sorgen, dass der Antrag angenommen wurde und ihre Abhängigkeit von der Familie Tolomei bald der Vergangenheit angehörte.
Von ihrem Platz hinter der Säule konnte Giulietta nun ihren schönen Romeo in der Menge der Edelleute ausmachen - wenn sie sich nicht täuschte, reckte er ebenfalls gerade den Kopf und hielt nach ihr Ausschau, wobei er immer enttäuschter wirkte, weil sie nirgendwo zu sehen war. Neben ihm stand ein Mann, bei dem es sich nur um seinen Vater handeln konnte. Beim Anblick der beiden spürte sie, wie eine Welle der Freude in ihr hochstieg. Sie wusste, dass beide fest entschlossen waren, die Erlaubnis einzuholen, sie zu einem Mitglied ihrer Familie zu machen, und als sie Vater und Sohn schließlich auf ihren Onkel Tolomei zugehen sah, konnte sie sich kaum noch beherrschen. Vorsichtig schlich sie von Säule zu Säule. Sie hoffte, so nahe heranzukommen, dass sie hören konnte, was die Männer sprachen, ohne von ihnen entdeckt zu werden. Glücklicherweise waren aüe derart auf ihr hitziges Gespräch konzentriert, dass sie auf nichts anders achteten.
»Comandante!«, rief ihr Onkel Tolomei, als er die Marescottis näherkommen sah. »Sagt, steht der Feind schon vor dem Tor?«
»Der Feind«, antwortete Comandante Marescotti und nickte dabei kurz zu dem Mann hinüber, der neben ihrem Onkel stand, »ist bereits hier. Sein Name lautet Verderbnis, und er macht an den Toren nicht Halt.« Er legte eine kurze Pause für allgemeines Gelächter ein. »Messer Tolomei, es gibt da eine etwas heikle Sache, die ich gerne unter vier Augen mit Euch besprechen würde. Wann darf ich Euch denn einen Besuch abstatten?«
Sichtlich überrascht starrte Tolomei den Comandante an. Die Marescottis waren vielleicht nicht so reich wie die Tolomeis, doch die Fackel der Geschichte ließ ihren Namen hell erstrahlen. Ihr Stammbaum hatte mit Sicherheit schon fünf Jahrhunderte zuvor im Lager Karls des Großen Wurzeln geschlagen, wenn nicht schon im Garten Eden selbst. Nichts, so vermutete Giulietta, würde ihrem Onkel Tolomei größere Freude bereiten, als mit jemandem dieses Namens ins Geschäft zu kommen. Tatsächlich wandte er nun dem Mann mit den Raubtieraugen den Rücken zu und breitete die Arme aus. »Sagt mir doch, worum es geht.«
Comandante Marescotti, der über den öffentlichen Ort und die vielen neugierigen Ohren rundherum nicht allzu glücklich war, zögerte einen Moment. »Ich kann mir nicht vorstellen«, antwortete er dann diplomatisch, »dass Messer Salimbeni unser Geschäft sehr unterhaltsam finden wird.«
Als Giulietta den Namen Salimbeni hörte, spürte sie, wie sich ihr ganzer Körper vor Angst versteifte. Erst jetzt begriff sie, dass der Mann mit den Raubtieraugen - der es vor wenigen Augenblicken geschafft hatte, dass Monna Antonia eine unterwürfige Haltung einnahm - auch derjenige war, der die Verantwortung für die Ermordung ihrer Familie trug. Viele Stunden hatte sie sich vorzustellen versucht, wie dieses Ungeheuer wohl aussehen mochte, und nun, da er endlich leibhaftig vor ihr stand, stellte sie schockiert fest, dass er, abgesehen von seinen Augen, gar nicht wie ein Monstrum wirkte.
Sie hatte sich einen breitschultrigen, brutalen Kerl vorgestellt, dessen ganzer Körper nur für Krieg und Zerstörung geschaffen war. Stattdessen sah sie nun einen Mann, der bestimmt noch niemals selbst die Waffe geschwungen hatte, sondern aussah, als verstünde er sich eher auf die Künste der Rhetorik und des Speisezimmers. Es konnte zwischen zwei Männern keinen größeren Gegensatz geben als zwischen Comandante Marescotti und Messer Salimbeni. Der eine war ein Fachmann für Krieg, wünschte sich aber nichts als Frieden, der andere hatte
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