Julia
ehren, die Jungfrau Maria, und ihre Aufnahme in den Himmel zu feiern.
Morgen, am eigentlichen Feiertag, erleuchtete dann ein Meer aus flackernden Kerzen die majestätische Kathedrale, während Vasallen aus den Städten und Dörfern der Umgebung eintrafen, um ihren Tribut zu zollen. Das Gesetz verlangte, dass sie jedes Jahr an diesem Tag, dem 15. August, der göttlichen Königin von Siena eine genau bemessene Anzahl von Wachskerzen spendeten. Gestrenge Vertreter der Stadt sorgten in der Kathedrale dafür, dass die kleineren Städte und Dörfer, die Siena unterstellt waren, ihren Verpflichtungen nachkamen. Die Tatsache, dass die Kathedrale bereits von einer Fülle heiliger Lichter erhellt wurde, bestätigte nur, was die Auswärtigen ohnehin wussten: dass Siena ein glorreicher Ort war, gesegnet von einer allmächtigen Gottheit, und dass die Zugehörigkeit zu dieser Stadt den Preis wert war.
Maestro Ambrogio zog die nächtliche Wache der Prozession bei Tageslicht bei weitem vor. Wenn Menschen Licht in die Dunkelheit trugen, geschah mit ihnen etwas Magisches: Das Feuer breitete sich bis in ihre Seelen aus, und wenn man genau hinsah, ließ sich dieses Wunder in ihren Augen verfolgen.
An diesem Abend aber konnte er nicht wie sonst an der Prozession teilnehmen. Seit er mit den großen Fresken im Palazzo Pubblico begonnen hatte, behandelten ihn die Räte von Siena wie einen der ihren - womit sie zweifellos nur erreichen wollten, dass er sie auf seinen Gemälden möglichst vorteilhaft darstellte. Deshalb saß er nun hier auf dieser Bühne fest, zusammen mit den Neun, den Biccherna-Räten, dem Capitano des Krieges und dem Capitano des Volkes. Der einzige Trost war, dass er von seinem erhöhten Platz aus einen guten Blick auf das nächtliche Spektakel hatte: die Musikanten in ihren scharlachroten Uniformen, die Trommler und Fahnenträger mit ihren Insignien, die Priester in ihren fließenden Gewändern, die ganze von Kerzenlicht erhellte Prozession, die sich hinzog, bis jede Contrade Gelegenheit gehabt hatte, der himmlischen Königin, welche ihren schützenden Mantel über sie alle breitete, gebührend zu huldigen.
Dass die Familie Tolomei die Prozession der Contrade von San Cristoforo anführte, war nicht zu übersehen. In die Rot- und Goldtöne ihres Wappens gehüllt, schritten Messer Tolomei und seine Gattin in der majestätischen Haltung eines Königspaares, das sich gerade auf dem Weg zum Thron befand, durch den Mittelgang des Kirchenschiffes in Richtung Hauptaltar. Direkt hinter ihnen folgten weitere Mitglieder der Familie Tolomei. Maestro Ambrogio brauchte nicht lange, bis er Giulietta unter ihnen ausgemacht hatte. Obwohl ihr Haar mit blauer Seide bedeckt war - das Blau stand für die Unschuld und Erhabenheit der Jungfrau Maria - und ihr Gesicht nur von einer kleinen Wachskerze erhellt wurde, die sie in ihren fromm gefalteten Händen trug, ließ ihre Schönheit sofort alles um sie herum verblassen, selbst die prächtige Aussteuer ihrer Cousinen.
Giulietta aber war sich der bewundernden Blicke, die ihr bis zum Altar folgten, gar nicht bewusst. Offensichtlich galten ihre Gedanken einzig und allein der Jungfrau Maria. Während alle um sie herum mit der Selbstzufriedenheit des Schenkenden zum Hochaltar schritten, hielt das Mädchen den Blick die ganze Zeit auf den Boden gerichtet, bis sie endlich mit ihren Cousinen niederknien und ihre Kerze den Priestern überreichen durfte.
Mit zwei tiefen Knicksen erhob sie sich wieder und wandte ihr Gesicht der Welt zu. Offenbar wurde ihr erst jetzt bewusst, von welcher Pracht sie umgeben war. Die schwindelerregende Weite der Kirchenkuppel brachte sie für einen kurzen Moment zum Schwanken, während sie mit nervöser Neugier den Blick über die versammelten Menschen schweifen ließ. Maestro Ambrogio hätte nichts lieber getan, als an ihre Seite zu eilen und sich als ihr bescheidener Diener anzubieten, doch die Etikette erforderte, dass er blieb, wo er war, und ihre Schönheit nur aus der Ferne bewunderte.
Er war nicht der Einzige, dem sie auffiel. Die Räte, eben noch eifrig damit beschäftigt, Geschäfte abzuschließen und per Handschlag zu besiegeln, verstummten beim Anblick von Giuliettas Gesicht, und sogar der große Messer Salimbeni, der gleich unterhalb des Podiums in nächster Nähe der Räte stand, als gehörte er dorthin, wandte den Kopf, um zu sehen, wieso plötzlich alle so still wurden. Als er der jungen Frau ansichtig wurde, breitete sich auf seinem Antlitz ein
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