Julia
Ausdruck freudiger Überraschung aus. In dem Moment erinnerte er den Maestro an ein Fresko, das vor langer Zeit - als er noch jung und närrisch war - in einem übel beleumundeten Haus seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Jenes Bild stellte den antiken Gott Dionysos dar, wie er auf die Insel Naxos hinabstieg und dort Prinzessin Ariadne vorfand, die von ihrem treulosen Liebhaber Theseus verlassen worden war. Wie dieses Zusammentreffen zwischen Frau und Gott endete, ging aus dem Mythos nicht klar hervor. Manche Leute glaubten, dass die beiden in liebevoller Harmonie gemeinsam davonflogen, andere dagegen wussten, dass Begegnungen zwischen Menschen und verliebten Göttern niemals ein glückliches Ende nehmen konnten.
In Anbetracht von Salimbenis Ruf mochte es auf den ersten Blick zu freundlich erscheinen, ihn mit einer Gottheit zu vergleichen. Andererseits waren jene antiken, heidnischen Gottheiten alles andere als gütig und erhaben gewesen. Auch Dionysos als der Gott des Weines und des Feierns war nur allzu schnell bereit, sich in den Gott des wütenden Wahnsinns zu verwandeln - eine schreckliche Naturgewalt, die Frauen dazu verführen konnte, wie Wilde im Wald herumzulaufen und mit bloßen Händen Tiere in Stücke zu reißen.
Auf einen ungeübten Beobachter mochte Salimbeni, während er so dastand und quer durch die Kathedrale zu Giulietta hinüberstarrte, wie ein Ausbund an Güte und Reichtum wirken. Dem Maestro aber entging nicht, dass unter dem samtigen Brokat des Mannes bereits die Verwandlung eingesetzt hatte.
»Ich muss schon sagen«, murmelte einer der Neun so laut, dass Maestro Ambrogio es hören konnte, »Tolomei steckt voller Überraschungen. Wo hatte er denn sie die ganze Zeit versteckt?«
»Scherzt nicht«, erwiderte der älteste der Räte, Niccolino Patrizi. »Wie ich gehört habe, kamen ihre Eltern durch eine von Salimbenis Räuberbanden ums Leben. Der Überfall fand statt, während sie gerade bei der Beichte war. Ich kann mich gut an ihren Vater erinnern, er war ein ganz besonderer Mann. Es ist mir nie gelungen, seine Integrität zu erschüttern.«
Der andere Mann schnaubte ungläubig. »Seid Ihr sicher, dass sie vor Ort war? Es sieht Salimbeni gar nicht ähnlich, sich solch eine Perle durch die Lappen gehen zu lassen.«
»Ich glaube, sie wurde von einem Priester gerettet. Nun stehen beide unter dem Schutz von Tolomei.« Seufzend griff Niccolino Patrizi nach seinem Silberbecher, um einen Schluck Wein zu trinken. »Ich hoffe nur, dass die Fehde dadurch nicht wieder aufflammt - nun, da wir sie endlich unter Kontrolle haben.«
Messer Tolomei fürchtete sich schon seit Wochen vor diesem Moment. Ihm war die ganze Zeit klar gewesen, dass er seinem Gegner Salimbeni, jenem verhasstesten aller Männer, bei der abendlichen Wache anlässlich von Maria Himmelfahrt von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würde, und dass er, um seine Würde zu wahren, nicht umhin konnte, Rache für den Tod von Giuliettas Familie zu fordern. Deshalb machte er sich, nachdem er sich vor dem Altar verbeugt hatte, auf den Weg, um inmitten der Edelleute, die unterhalb des Podests versammelt waren, Salimbeni ausfindig zu machen.
»Ich wünsche Euch einen guten Abend, lieber Freund!« Salimbeni breitete übertrieben herzlich die Arme aus, als er seinen alten Feind nahen sah. »Eure Familie erfreut sich hoffentlich bester Gesundheit?«
»Mehr oder weniger«, stieß Tolomei zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ein Teil davon wurde kürzlich Opfer von Gewalt, wie Ihr sicher gehört habt.«
»Mir ist da so ein Gerücht zu Ohren gekommen«, antwortete Salimbeni, dessen freundschaftliche Geste nun von einem wegwerfenden Schulterzucken abgelöst wurde, »doch Gerüchten traue ich grundsätzlich nicht.«
»Dann befinde ich mich wohl in einer vorteilhafteren Position«, entgegnete Tolomei, der dem anderen sowohl in puncto Körpergröße als auch in puncto Auftreten deutlich überlegen war, ihn aber trotzdem nicht einschüchtern konnte, »denn ich habe Augenzeugen, die bereit sind, es mit der Hand auf der Bibel zu beschwören.«
»Tatsächlich?« Salimbeni wandte den Blick ab, als würde ihn das Thema bereits langweilen. »Welches Gericht wäre närrisch genug, ihnen Gehör zu schenken?«
Auf diese Frage folgte eine unheilschwangere Stille. Genau wie jeder der zuhörenden Männer wusste Tolomei, dass er gerade eine Macht herausforderte, die ihn zermalmen und alles, was er besaß - Leben, Freiheit und Eigentum -, binnen
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