Julias Geheimnis
für die Frau neben sich übrig gehabt. Nachdem in der Ferne die vertrauten grünen Hügel von Dorset in den Blick gekommen waren, hatte Ruby kaum mehr bemerkt, wie der Wagen die Meilen fraß. Die Freude der Heimkehr hatte sich in eine furchtbare Art von Leere verwandelt, und sie war nicht in der Lage gewesen, das Haus zu betreten, nicht einmal mit James an ihrer Seite. Wie lange war es her, seit sie einfach Hand in Hand am Fluss spazieren gegangen waren oder geredet hatten – richtig geredet, so als wolle jeder wirklich hören, was der andere zu sagen hatte? Und jetzt das. Armer James. Er hatte nicht gewusst, wie er damit umgehen sollte, wie er mit ihr umgehen sollte. Er hatte sie angesehen, als kenne er sie nicht mehr. Und so war es im Grunde ja auch. Es klang ein wenig verrückt, aber sie war jemand anderer geworden, seit sie die beiden verloren hatte.
Nach dem Begräbnis waren sie nach London zurückgefahren, Ruby hatte sich dem schrecklichen Nachspiel gestellt. Sie hatte Beileidskarten von Freunden und Bekannten ihrer Eltern gelesen, Karten von Menschen, die sie kaum gekannt hatte, und von einigen, die sie kannte, darunter Frances, die älteste Freundin ihrer Mutter, die bei der Beerdigung so nett gewesen war. Sie hatte Ruby ihre Adresse und ihre Telefonnummer gegeben und ihr ihre Hilfe angeboten, wann immer sie sie brauchen sollte. Dann waren die Testamentseröffnung gefolgt und die Abwicklung der Angelegenheiten ihrer Eltern, die Ruby irgendwie abgeschlossen hatte, indem sie aus einer Ecke ihres verzweifelten Selbst neben dem Kummer vorübergehend eine kalte Sachlichkeit zutage förderte.
Auf diese Weise schrieb sie auch den Artikel fertig, an dem sie gearbeitet hatte – ein Exposé über eine Hotelkette und das Recyceln von Tischwein. Im Anschluss daran hatte sie sich in das nächste Projekt gestürzt und dann in das übernächste. Ihre Freunde hatte sie kaum noch gesehen. Sie war nicht mehr ins Sportstudio gegangen und hatte sich keinen der gelegentlichen Mädchenabende mit Jude, Annie und den anderen mehr erlaubt, nach denen sie sich normalerweise in jeder Hinsicht besser fühlte. Sie arbeitete einfach. Es war, als bräuchte Ruby, solange sie ständig schrieb, Menschen interviewte und ihre Geschichten recherchierte, nicht über ihr eigenes Leben nachzudenken, über das, was ihren Eltern – und ihr – zugestoßen war. Sie funktionierte vollkommenautomatisch. Und dabei blieb auch James irgendwie auf der Strecke und ihre Beziehung, die langsam zerbrach.
Doch Ruby war sich nicht sicher, ob sie sie schon loslassen konnte. Sie wusste, dass sie in das Haus in Dorset fahren musste, die Sachen ihrer Eltern sortieren und entscheiden, was aus dem Haus werden sollte, nachdem sie nicht mehr da waren. Aber wie sollte sie das fertigbringen? Wenn sie sich damit befasste, dann wäre das, als gebe sie zu … Dass es wahr war. Dass sie sie wirklich verlassen hatten.
Gestern Abend hatte sich die Situation zugespitzt. Ruby hatte die Geschichte, an der sie arbeitete, fertiggeschrieben und dann ein langes Bad genommen. Denn sie hatte das Gefühl, ihr Kopf würde platzen. Nachher hatte sie sich mit ihrem Notebook, ihrem Saxofon und ihrer Gitarre aufs Sofa gesetzt und auf eine Inspiration gewartet, aber nichts war passiert. Sie spielte kaum noch Saxofon und hatte seit Monaten keinen Song mehr geschrieben. Und das lag nicht nur daran, dass ihre Eltern gestorben waren. Noch etwas anderes war in ihrem Leben völlig aus den Fugen geraten.
James war nach der Arbeit noch mit Kollegen aus gewesen und spät nach Hause gekommen. Er war müde und gereizt und verschmähte sogar das Abendessen, das sie für ihn gekocht hatte. Er fuhr sich durch sein blondes Haar und stieß einen langen Seufzer aus. »Ich kann ebenso gut gleich ins Bett gehen«, sagte er. Er berührte sie nicht.
Da riss ihr der Geduldsfaden, und sie verlor die Beherrschung. »Was hat es für einen Sinn, wenn wir zusammenbleiben, James?«, wollte Ruby wissen. »Anscheinend haben wir vollkommen unterschiedliche Vorstellungen vom Leben. Wir verbringen ja kaum noch Zeit miteinander.« Halb wünschte sie sich, er werde Einwände erheben, ihre Zweifel zerstreuen,sie in die Arme nehmen. Sie hatte keine Lust, ständig diese Streitgespräche mit ihm zu führen. Aber wie konnten sie weiter so verschiedene Leben führen? Etwas musste sich ändern.
Doch er hatte ihr nicht widersprochen. »Ich weiß nicht, was du willst, Ruby«, hatte er stattdessen erklärt. »Ich
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