Julias Geheimnis
zeigte dasselbe Mädchen – es wirkte nicht älter als Mitte zwanzig, hätte aber auch jünger sein können – auf dem Fahrersitz eines VW -Campingbusses in psychedelischen Farben. Ruby lächelte. Sie fühlte sich sofort in die Flowerpower-Zeit zurückversetzt. Das war natürlich lange vor ihrer Zeit gewesen, aber sie verstand, was daran so anziehend gewesen war. Das nächste Bild zeigte eine Gruppe Hippies am Stand. Sie saßen auf den schwarzen Felsen, und jemand spielte Gitarre. Vielleicht war es wieder dasselbe Mädchen, aber die Person war so weit entfernt, dass man es nicht erkennen konnte. Auf dem nächsten Bild war noch einmal dasselbe Mädchen am Strand zu sehen, diesmal allerdings mit einem kleinen Baby auf dem Arm. Einem Baby.
Etwas – Trauer vielleicht? – schnürte Ruby den Hals zu. Ihre Mutter würde Ruby nie mit einem Baby auf dem Arm sehen. Sie würde niemals Großmutter werden und ihr Vater niemals Großvater. Sie würden nicht miterleben, wie Ruby heiratete und Kinder bekam. Sie konnten nicht mehr stolz auf sie sein, wenn es einer ihrer Artikel bis in eine Sonntagsbeilage schaffte. Sie würden zu keinem ihrer Jazzauftritte mehr kommen, bei denen sie in Kneipen Saxofon spielte und ihre eigenen Songs mit Coverversionen all der berühmten Jazzstücke mischte, die ihre Eltern so liebten. Allerdings war sie seit ihrem Umzug nach London nicht mehr oft aufgetreten; sie hatte die Musik ziemlich schleifen lassen. Jedenfalls würden ihre Eltern bei all dem nicht mehr dabei sein, sie würden ihre Zukunft nicht mehr miterleben.
Ruby blinzelte die Tränen weg. Sie legte die Fotos neben sich auf den Boden und untersuchte den restlichen Inhalt der Schachtel. Sie fand ein Stück blassrosa Seidenpapier und faltete es auseinander. Eine bunte Hippie-Kette fiel heraus. Ruby ließ sie durch ihre Finger gleiten. So etwas hatte man in den Sechzigern und Siebzigern getragen. So etwas … Sienahm noch einmal eines der Fotos zur Hand. Das Mädchen trug so eine Kette. Die Perlen waren alt, zart und zerbrechlich. Vielleicht war es ja wirklich dieselbe Kette.
Behutsam wickelte sie ein weiteres Seidenpapier-Päckchen auf, das am Boden der Schachtel lag, und entdeckte ein kleines, weißes Häkelmützchen – so klein, dass es nur … Sie runzelte die Stirn. Es würde nur einem Baby passen. Sie nahm es in die Hand – es war so weich – und legte es zu den Perlen. Dann schlug sie das letzte kleine Päckchen auseinander. Ein Stück graues Plastik, ein Plektrum. Genauso eines, wie sie es beim Gitarrenspielen benutzte. Aber warum legte jemand ein Gitarrenplektrum in eine Schuhschachtel? Sie betrachtete das kleine Häufchen aus anscheinend beliebig zusammengewürfelten Gegenständen. Warum befanden sie sich in einer Schuhschachtel im Kleiderschrank ihrer Eltern?
»Ich habe einen Stapel Papiere auf den Wohnzimmertisch gelegt«, sagte Mel, als sie die Treppe hinaufkam. »Du solltest sie dir vielleicht ansehen. Um ehrlich zu sein, hättest du sie schon vor Wochen durchgehen sollen.«
Ruby sah zu Mel auf, die in der Tür stand. »Okay«, gab sie zurück.
»Hast du etwas Interessantes gefunden?«
»Ach, nur eine Schuhschachtel mit ein paar Sachen.«
»Sachen, die keine Schuhe sind?« Mel setzte sich aufs Bett, und Ruby zeigte ihr die Fotos, die Hippie-Kette, das Plektrum und das weiße, gehäkelte Babymützchen.
»Was glaubst du, was das alles zu bedeuten hat?«, fragte sie.
Mel betrachtete das Foto von dem Mädchen und dem Baby. »Sieht aus, als gehörten die Sachen ihr.«
»Ja. Aber wer war sie?«
»Dann kennst du sie nicht?«
»Ich kenne niemanden auf den Fotos, und ich kann mich auch nicht erinnern, dass Mum oder Dad irgendwann einmal etwas von einem Hippie-Mädchen erzählt hätten.«
Mel zuckte die Achseln. »Vielleicht hat deine Mum die Sachen ja für jemand anderen aufbewahrt?«
»Vielleicht.« Aber für wen?
»Vermutlich hat es gar nichts zu sagen. Du solltest sehen, was ich alles unten in meinem Kleiderschrank habe.« Mel warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich muss los, Liebes. Stuarts Mum kommt zum Abendessen, und ich war noch nicht einmal im Supermarkt.«
Ruby lachte. Es wäre schön, Mel und Stuart wieder in der Nähe zu haben, dachte sie, und auch einige andere alte Freunde aus der Zeit, bevor sie weggezogen war. Es war genau das, was sie brauchte.
Vielleicht hatte es mit den Sachen ja tatsächlich nichts auf sich, dachte sie. Aber sie legte alle Gegenstände zurück in
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