Julias Geheimnis
weiß es einfach nicht mehr.« Er hatte die Hände in die Taschen gesteckt. Ruby fragte sich, was er damit verhindern wollte. Vielleicht, dass sie sich nach ihr ausstreckten?
Ja, was wollte sie? Und was wollte er, da sie schon einmal dabei waren? James liebte es, in London zu wohnen. Er ging gern in Bars und Restaurants und unternahm Städtereisen nach Prag oder Amsterdam – vorzugsweise zusammen mit ein paar seiner Kumpels. Abgesehen von ihrem gelegentlichen Mädchenabend sehnte Ruby sich momentan nach ein wenig mehr Ruhe und Alleinsein. Sie wanderte lieber auf den Klippen von Chesil Beach, statt in der Oxford Street zu shoppen. Er aß gern chinesisch, sie lieber italienisch. Er stand auf Hip-Hop, sie liebte Jazz. Er sah fern, sie las Bücher. Er spielte Fußball, sie tanzte gern. Die Liste in ihrem Kopf ließ sich beliebig fortsetzen. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wie oder warum sie sich damals in James verliebt hatte. Früher hatten sie gemeinsam Dinge unternommen. Sie hatten Spaß gehabt. Was war nur mit ihr los?
Ihr wurde bewusst, dass sie weinte.
Doch er wandte ihr den Rücken zu und bemerkte es nicht einmal.
Plötzlich erkannte Ruby, was sie tun musste. Sie musste sich eine Zeit lang freinehmen. Sie arbeitete nun schon seit über fünf Jahren als freie Journalistin. Doch ihre Eltern hatten ihr ein kleines Erbe sowie das Haus hinterlassen, sodass sie zumindest ein wenig Spielraum hatte. Und sie musstenach Hause, nach Dorset. Sie musste sich dem stellen, was passiert war. Sie war nun stark genug, um sich damit auseinanderzusetzen. Sie musste es einfach sein.
Die Sache mit dem Haus war jedoch nicht so einfach.
Ruby ging zuerst ins Wohnzimmer. Sie blieb wie angewurzelt stehen und sah sich um. Es war furchtbar, so als wären die beiden nur für ein, zwei Stunden weggegangen. Sie trat an den Tisch, fuhr mit einer Fingerspitze über das steife, blassgrüne Papier des Aquarells. Ihre Mutter hatte gemalt; ihre Pinsel standen noch in einem Glas mit fauligem Wasser, ihre Wasserfarben steckten in der alten Büchse, und ihre Palette lag auf dem Tisch. Dort stand auch eine Vase mit verwelkten Blumen. Ruby berührte sie, und sie zerbröselten unter ihren Fingern. Auf dem Tisch standen auch zwei Tassen mit eingetrockneten Teeresten. Der grüne Pullover ihres Vaters war über eine Sessellehne geworfen. Ruby hob ihn hoch, vergrub – nur ganz kurz – das Gesicht darin und nahm den Duft ihres Vaters wahr, das Rasierwasser mit der Zitrusnote, das sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, gemischt mit Holzpoliturwachs und Kiefer. Sie waren noch so jung gewesen. Es war einfach nicht fair …
Was mochte er zu ihr gesagt haben? »Lust auf einen kleinen Ausflug mit dem Motorrad? Am Strand entlang? Komm schon. Was meinst du? Sollen wir mal wieder ein bisschen Staub aufwirbeln?«
Ihre Mutter hatte gemalt, aber sie hatte sicher lächelnd geseufzt, wie sie es immer getan hatte, und ihre Arbeit beiseitegeschoben. »Na gut, Liebling«, hatte sie vermutlich gesagt. »Wahrscheinlich tut mir eine Pause gut. Aber nur für eine Stunde.«
Einen Moment lang sah Ruby sie vor sich, sah, wie ihr das dunkle, von Grau durchzogene Haar beim Malen ins Gesicht fiel, wie sie die Augen zusammenzog, um ihr Motiv besser einzufangen, und sich das Licht auf ihren Silberohrringen spiegelte … Nein. Es war einfach nicht fair.
Mel schlang tröstend den Arm um sie. »Ich habe Milch im Auto«, sagte sie. »Ich hole sie und koche uns eine schöne Tasse Tee. Und dann fangen wir an, okay?«
»Okay«, schniefte Ruby und nickte. Deshalb waren sie hergekommen. Aber es waren so viele Sachen, und sie bedeuteten ihr alle so viel. Die Erinnerungen eines ganzen Lebens.
»Also, meiner Meinung nach«, erklärte Mel beim Tee, »müssen erst einmal ein paar von den persönlichen Gegenständen weg, bevor du klarer sehen kannst.«
Ruby nickte. Sie wusste genau, was ihre Freundin meinte.
»Denn du wirst das Haus doch verkaufen, oder?«
»Ja, natürlich.« Auch wenn … Bis jetzt hatte sie noch keine Entscheidung dafür oder dagegen getroffen. Aber im Zug nach Axminster hatte sie nachgedacht. Was hielt sie wirklich in London? Sie hatte ihren Job. Aber freiberuflich bedeutete auch, dass sie eigentlich überall arbeiten konnte, solange sie ihren Laptop dabeihatte. Nachdem sie zunächst für das lokale Käseblatt in Pridehaven und dann für das Hochglanzmagazin Women in Health in London gearbeitet hatte, war die Freiberuflichkeit ein
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