Julie oder Die neue Heloise
Unschuld zum Asyl zu dienen; komm, dort im Angesichte des Himmels und der Menschen das süße Band zu schließen, welches euch umschlungen hält; kommt und beehret mit dem Vorbilde euerer Tugenden ein Land, in welchem diese angebetet und schlichte Menschen willig sind, sie nachzuahmen. Möchtet ihr an dieser ruhigen Stätte immerdar in den Gefühlen, welche euch an einander ketten, das Glück reiner Seelen genießen! Möchte der Himmel dort euere keusche Liebe mit einer Nachkommenschaft segnen, die euch ähnlich würde! möchten euerer Tage viel werden in ehrenvollem Alter, bis ihr endlich friedvoll scheidet in den Armen euerer Kinder! Möchten noch unsere Enkel, wenn sie mit geheimem Schauer die Gedächtnißstätte dieses ehelichen Glückes durchwandern, eines Tages in der Rührung ihrer Herzen sprechen: „Hier war er, der Zufluchtsort der Unschuld, hier der Wohnsitz der beiden Liebenden!"
Ihr Loos liegt in Ihren Händen, Julie! Erwägen Sie bedachtsam den Vorschlag, den ich Ihnen mache, und fassen Sie nur den Hauptpunkt ins Auge; denn im Uebrigen nehme ich es auf mich, das, wozu ich mich anheischig machte, Ihrem Freunde im Voraus und unwiderruflich zu sichern; ich nehme es auch auf mich, für Ihr sicheres Entkommen und mit ihm gemeinschaftlich bis zu Ihrer Ankunft dort für die Sicherheit Ihrer Person zu sorgen; dort könnt ihr euch sogleich öffentlich und ohne irgend ein Hinderniß heirathen, denn bei uns hat ein mannbares Mädchen keines Menschen Einwilligung nöthig, um über sich zu verfügen. Unsere weisen Gesetze heben nicht die Gesetze der Natur auf; und wenn sich aus dieser heilsamen Uebereinstimmung auch einige Mißstände ergeben, so sind doch dieselben viel geringer als jene, denen dadurch vorgebeugt ist. Ich habe in Vevay meinen Kammerdiener gelassen, einen vertrauten Mann, muthig, klug und von erprobter Treue, Sie werden leicht mit ihm Abrede nehmen können, entweder mündlich oder auch schriftlich durch Regianino, ohne daß dieser letztere zu wissen braucht, um was es sich handelt. Sobald es Zeit ist, reisen wir zu Ihnen und Sie sollen das väterliche Haus nicht anders als unter der Obhut Ihres Gatten verlassen.
Ich überlasse Sie Ihrem Nachdenken; aber, ich wiederhole es, lassen Sie sich ja nicht von Vorurtheilen irre machen und von Bedenklichkeiten verleiten, die oft aus dem Wege der Ehrbarkeit nur zum Laster führen. Ich sehe voraus, was geschehen wird, wenn Sie mein Anerbieten verwerfen. Die Tyrannei eines unlenksamen Vaters wird Sie in einen Abgrund reißen, welchen Sie erst nach dem Sturze erkennen werden. Ihre ungemeine Herzensgüte artet manchmal in Aengstlichkeit aus: Sie werden der Chimäre der Standesverhältnisse geopfert werden
[Der Chimäre der Standesverhältnisse! Der Mann, der so redet, ist ein Pair von England, Und diese ganze Geschichte sollte keine Dichtung sein! Leser, was dünkt dich?]
. Sie werden ein Bündniß eingehen müssen, dem das Herz widerstrebt. Die öffentliche Billigung wird unablässig von dem Schrei der inneren Stimme Lügen gestraft sein; Sie werden in Ehren leben und verächtlich sein; besser doch vergessen und tugendhaft.
N. S. In der Ungewißheit über Ihren Entschluß habe ich Ihrem Freunde nichts von diesem Briefe gesagt, damit nicht durch eine Weigerung von Ihrer Seite in einem Augenblicke die Wirkung aller meiner Bemühungen zerstört werde.
Vierter Brief.
Julie an Clara.
O, meine Theure! in welcher Verwirrung hast du mich gestern Abend zurückgelassen! und was für eine Nacht habe ich damit hingebracht, über diesen unseligen Brief zu grübeln! Nein, nie hat einegefährlichere Versuchung mein Herz angefallen, nie habe ich eine ähnliche Aufregung gefühlt und nie weniger Möglichkeit vor mir gesehen, mich von ihr zu befreien. Sonst lenkte wohl ein Strahl von Klugheit und Vernunft meinen Willen; bei jeder Gelegenheit prüfte ich zuerst, was wohl das Rechte zu thun wäre, und that danach. Jetzt, in meiner Erniedrigung und stets besiegt, schwanke ich nur zwischen widersprechenden Leidenschaften hin und her: mein schwaches Herz hat nur noch unter seinen Vergehungen die Wahl, und meine klägliche Blindheit ist so groß, daß, wenn ich zufällig auch das Bessere wähle, ich mich doch dabei nicht von der Tugend geleitet weiß, und nicht weniger Gewissensbisse fühle. Du weißt, wen mir mein Vater zum Gatten bestimmt; du weißt, welche Bande meine Liebe geknüpft hat. Will ich tugendhaft sein, so legen mir hier der Gehorsam, dort die Treue
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