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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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vielleicht nie die Menschen kennenlernen; denn ihr werdet sie immer mehr so sehen, wie ihr sie zu sein zwingt, als wie sie von selbst sind. Ihr werdet Allen, die mit euch leben, den Ton geben; sie werden euch ausweichen oder euch ähnlich werden, und Alles, was ihr erfahren werdet, wird vielleicht nichts ihm Aehnliches in der ganzen übrigen Welt haben.
    Kommen wir nun auf mich, Cousine, auf mich, die dasselbe Blut, gleiches Alter und vor Allem eine Uebereinstimmung der Neigungen und der Gemüthsart, bei ganz entgegengesetztem Temperamente, von Kindheit auf dir verbündet hat.
Congiunti eran l'alberghi,
    Ma più congiunti i cuori:
    Conforme era l'etate,
    Ma'l pensier più conforme.

    [Die Wohnungen waren verbunden.
    Verbundener die Herzen,
    Und gleich die Zahl der Jahre,
    Die Sinnesart noch gleicher.
Tasso's Aminta.]
    Wie denkst du, daß dieser bezaubernde Einfluß, der sich Allem fühlbar macht, was dir naht, auf Die gewirkt habe, welche mit dir ihr Leben hingebracht hat? Glaubst du, daß zwischen uns nur eine alltägliche Verbindung bestehen kann? Geben meine Augen die süße Freude nicht wieder, welche ich jeden Tag, wenn wir einander sehen, in den deinigen schöpfe? Liesest du nicht in meinem bewegten Herzen, welche Lust es mir ist, deine Leiden zu theilen und mit dir zu weinen? Kann ich es vergessen, daß dir in dem ersten Entzücken einer keimenden Liebe die Freundschaft nicht zur Last war und daß das Murren deines Liebhabers dich nicht bewegen konnte, mich von dir zu entfernen und mir das Schauspiel deiner Schwachheit zu entziehen? Dies war ein kritischer Augenblick, meine Julie; ich weiß, was bei deinem züchtigen Herzen das Opfer werth ist, welches du mit einer Scham gebracht, die nicht gegenseitig war. Nie würde ich deine Vertraute geworden sein, wenn ich nur halb deine Freundin gewesen wäre, und unsere Seelen haben sich in ihrer Vereinigung zu sehr gefühlt, um je wieder getrennt werden zu können.
    Was ist es, das Freundschaften so lau und so wenig dauerhaft unter Frauen macht, nämlich auch unter solchen, die der Liebe fähigsind? Die Interessen der Liebe, die Herrschaft der Schönheit, die Eifersucht auf Eroberungen. Nun, wenn etwas der Art uns hätte scheiden können, so würden wir schon geschieden sein. Aber wenn mein Herz auch weniger ungeschickt zur Liebe wäre, wenn ich auch nicht wüßte, daß euere Flamme von solcher Art ist, daß sie nur mit eurem Leben selbst erlöschen kann, dein Geliebter ist mein Freund, das heißt, mein Bruder, und wer sah je eine wirkliche Freundschaft in Liebe enden? Was Herrn von Orbe betrifft, so würde er sich gewiß deiner Gesinnung für ihn bedeutend zu rühmen haben müssen, ehe es mir einfiele, darüber böse zu sein, und ich bin nicht mehr in Versuchung, ihn mit Gewalt festzuhalten, als du, ihn mir zu entreißen. Ei, Kind! Wollte Gott, ich könnte dich auf Kosten seiner Anhänglichkeit von der deinigen heilen! ich behalte sie gern, aber ich würde sie mit Freuden opfern.
    Hinsichts der Prätensionen auf Aeußeres könnte ich so viele machen, als ich immer wollte, du bist nicht das Mädchen dazu, sie mir zu bestreiten, und ich bin sehr sicher, daß es dir im Leben nicht in den Sinn kommen wird, wissen zu wollen, welche von uns beiden die Hübscheste ist. Ich bin in Bezug auf diesen Punkt nicht ganz eben so achtlos gewesen; ich weiß, wie es damit steht, ohne daß es mir den geringsten Kummer verursachte. Es kommt mir sogar vor, als ob es mich eher selbstzufrieden als eifersüchtig machte; denn da im Grunde deine äußern Reize nicht diejenigen sind, die mir stehen würden, so nehmen sie mir nichts von dem, was ich habe, und ich finde mich auch noch schön von deiner Schönheit, liebenswürdig von deiner Grazie, geziert durch deine Talente; ich schmücke mich mit allen deinen Vollkommenheiten und meine am besten verstandene Eigenliebe setze ich in dich. Ich würde freilich für mein Theil nicht gerade gerne Furcht machen, aber ich bin hübsch genug für mein Bedürfniß darnach. Alles Mehrere wäre Ueberfluß, und ich brauche mich nicht gedemüthigt zu fühlen, wenn ich dir nachstehe.
    Du wirst ungeduldig, zu erfahren, wo hinaus ich will. Ich bin schon da. Den Rath, den du verlangst, kann ich dir nicht geben, ich habe dir die Ursache davon gesagt; aber was du für dich beschließen wirst, das wirst du zugleich für deine Freundin beschließen; und wie auch dein Loos falle, ich bin Willens, es zu theilen. Wenn du fortgehest, gehe ich mit; wenn du bleibst, bleibe

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