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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Mädchen, welche täglich diese, abscheulichen Vorurtheilen geopfert werden. Ich habe einen berühmten Prozeß beim Parlamente von Paris verhandeln sehen, in welchem die Standesehre
öffentlich und ungescheut auf Sittsamkeit, eheliche Pflicht und Treue ihre Angriffe richtete und der unwürdige Vater, der den Prozess gewann, keine Bedenken trug, seinen Sohn zu verderben, blos weil dieser kein ehrloser Mensch sein wollte. Es ist unsäglich, wie in diesem so galanten Lande die Frauen vom Gesetze tyrannisirt sind. Darf man sich wundern, daß sie sich so grausam durch ihre Sitten dafür rächen?]
    Was soll es, daß man die Anforderungen der Natur den Anforderungen der Meinung zum Opfer bringt? Der Vermögens- und Standesunterschied hebt sich in der Ehe auf und thut nichts zum Glücke, aber die Verschiedenheit des Charakters und Gemüthes bleibt, und durch sie wird man glücklich oder unglücklich. Das Kind, das keinen Maßstab anlegt als die Liebe, wählt schlecht; der Vater, der keinen Maßstab anlegt als die Meinung, wählt noch schlechter. Ein braver Vater soll der Tochter, der es an Einsicht, an Erfahrung fehlt, um die Gesinnung und die Sitten ihres Erwählten zu beurtheilen, allerdings zu Hülfe kommen; er hat das Recht, ja, die Pflicht, ihr zu sagen: meineTochter, dieser ist ein braver Mann, dieser ist ein Schuft; dieser ein verständiger Mensch, dieser ein Geck. Das sind die Erfordernisse, von denen er Kenntniß zu nehmen hat; die Beurtheilung der übrigen steht der Tochter zu. Schreit man, das hieße die gesellschaftliche Ordnung zerstören, nein! eure Tyrannei zerstört sie. Daß den Rang das Verdienst bestimme und die Vereinigung der Herzen deren freie Wahl, dies ist die wahre gesellschaftliche Ordnung; Diejenigen, welche sie nach der Geburt oder dem Reichthum modeln, sind ihre wahren Zerstörer; über diese sollte man schreien, sie sollte man bestrafen.
    Demnach fordert die allgemeine Gerechtigkeit, daß solche Mißbräuche abgestellt werden; die Menschenpflicht fordert, daß man sich der Gewalt widersetze und zur Ordnung beitrage; und wenn es mir gelänge, diese beiden Liebenden einem unvernünftigen alten Manne zum Trotze mit einander zu verbinden, so zweifeln Sie nicht, daß ich darin die Absicht des Himmels erfüllen würde, und der Beifall der Menschen sollte mich nicht kümmern.
    Sie sind glücklicher, liebenswürdige Clara, Sie haben einen Vater, der nicht den Anspruch macht, besser als Sie zu wissen, was zu Ihrem Glücke dient. Vielleicht ist es nicht eben besondere Klugheit oder übergroße Zärtlichkeit, was ihn dazu bestimmt, Ihr Schicksal in Ihrer Hand zu lassen; aber was liegt an dem Beweggrunde, wenn der Erfolg der nämliche ist? Mögen Sie immerhin die Freiheit, welche er Ihnen läßt, seiner Liebe zur Bequemlichkeit statt dem Vernunftgebote verdanken! Genug, daß Sie diese Freiheit nicht gemißbraucht, sondern zu zwanzig Jahren eine Wahl getroffen haben, welcher der verständigste Vater seinen Beifall nicht versagt haben würde. Ihr Herz, von einer Freundschaft ohne Gleichen ganz dahingenommen, hat nur wenig Raum für Liebesglut; doch haben Sie an deren Statt Alles, was in der Ehe dafür entschädigen kann: wenn Sie, bei mehr Freundschaft als Liebe, nicht die zärtlichste Gattin sein werden, so werden Sie die tugendhafteste sein, und das Band, welches die Klugheit geschlungen hat, wird mit den Jahren sich nur immer fester knüpfen und nicht von ihnen überdauert werden. Der Trieb des Herzens ist blinder, doch ist er unbezwinglicher: man richtet sich nur zu Grunde, wenn man sich in die Notwendigkeit versetzt, ihm Widerstand zu leisten. Glücklich Die, welche die Liebe so zusammenführt, wie es die Vernunft nur hätte thun können, und die dabei kein Hinderniß zu überwinden und mit keinem Vorurtheile der Welt zu kämpfen haben! Glücklich würden unsere beiden Liebenden sein, wenn nicht der ungerechte Widerstand eines eigensinnigen Vaters wäre; und glücklich könnten sie dessenungeachtet noch werden, wenn Einer von Beiden gut berathen würde.
    Juliens Beispiel und das Ihrige zeigen gleichermaßen, daß es den Gatten allein zukommt, zu beurtheilen, ob sie füreinander passen. Wo nicht die Liebe die Herrschaft hat, wird die Vernunft allein Wählen: dies ist Ihr Fall; herrscht die Liebe, so hat die Natur bereits gewählt: dies ist Juliens Fall. Ein heiliges Naturgesetz waltet hier, in welches der Mensch nicht eingreifen darf, welches er nie ungestraft verletzt und welches, wenn es der Rücksicht

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