Julie oder Die neue Heloise
uns nur durch Lügen retten können, dann gute Nacht, wir sind verloren!
Dritte Abtheilung.
Émile Wattier (1800-68): Julies Mutter stirbt (III, 18)
Erster Brief.
Von Frau von Orbe.
Wie viel Leiden schaffen Sie Denen, die Sie lieben! wie viel Thränen sind Ihretwegen schon geflossen in einer unglücklichen Familie, deren Ruhe Sie allein trüben! Sorgen Sie, daß zu unseren Thränen sich nicht die Trauer geselle; sorgen Sie, daß nicht der Tod einer bekümmerten Mutter die letzte Wirkung des Giftes sei, das Sie in das Herz ihrer Tochter geflößt haben, und daß eine ungeregelte Liebe nicht zuletzt noch für Sie selbst eine Quelle ewiger Gewissensqualen werde! Die Freundschaft bewog mich, Ihre Verirrungen zu dulden, solange noch ein Schatten von Hoffnung ihnen Nahrung geben konnte, aber wie könnte ich nun einer fruchtlosen Beständigkeit stillschweigend zusehen, die Ehre und Vernunft verdammen, und die, da sie nur noch Unglück und Jammer verursachen kann, nur noch den Namen des Eigensinns verdient?
Sie wissen, wie das Geheimniß Ihrer Liebe, das sich dem Argwohne meiner Tante so lange entzogen hatte, ihr durch Ihre Briefe enthüllt worden ist. Wie empfindlich nun auch ein solcher Schlag dieser zärtlichen und tugendhaften Mutter ist, schiebt sie doch, weniger gegen Sie als gegen sich selbst aufgebracht, alle Schuld auf die eigene blinde Nachlässigkeit; sie bejammert ihre unselige Verblendung; ihre grausamste Pein ist, daß es möglich war, in ihre Tochter ein zu großes Vertrauen zu setzen, und für Julie ist der Schmerz der Mutter tausendmal härtere Strafe, als es alle Vorwürfe derselben sein könnten.
Die Erschöpfung der armen Cousine geht über alle Vorstellung; man muß sie sehen, um es glaublich zu finden. Ihr Herz scheint erstickt von Betrübniß, und das Uebermaß der Gefühle, die sie beängstigen, giebt ihr ein Ansehen von Stumpfheit, das abschreckender ist als durchbohrendes Geschrei. Sie liegt Tag und Nacht auf den Knieen am Kopfkissen ihrer Mutter, mit traurigem Gesicht, die Augen zu Boden geschlagen, lautlos, bedient sie mit mehr Aufmerksamkeit und Emsigkeit als je, sinkt dann augenblicklich wieder in einen Zustand von Schlaffheit zurück, daß man eine andere Person zu sehen glaubt. Es ist ganz klar, daß die Krankheit der Mutter der Tochter Kräfte giebt, und wenn sie nicht der Eifer, jene zu bedienen, aufrecht hielte, würde ich nach ihren erloschenen Augen, ihrer Blässe und ihrer außerordentlichen Abspannung fürchten, daß sie aller Hülfe, die sie leistet, gar sehr für sich selbst bedürftig sei. Meine Tante bemerkt es auch, und ich sehe an der Unruhe, mit welcher sie mir im Stillen die Gesundheit ihrer Tochter anempfiehlt, wie in beiden das Herz gegen den Zwang kämpft, den sie sich anthun und wie sehr man Sie hassen muß, daß Sie ein so schönes Liebesverhältnis gestört haben.
Dieser Zwang wird dadurch noch größer, daß man sich bemüht, ihn vor dem hitzigen Vater zu verbergen, dem die Mutter, für das Leben ihrer Tochter zitternd, das gefährliche Geheimniß nicht entdecken will. Man macht es sich zur Pflicht, sich in seiner Gegenwart traulich wie sonst zu benehmen; aber wenn die mütterliche Zärtlichkeit mit Freuden diesen Vorwand ergreift, wagt doch die Tochter, verwirrt, beschämt, ihr Herz Liebkosungen nicht hinzugeben, die sie für verstellt hält und die um so schmerzlicher für sie sind, als sie ihr süß wären, wenn sie ihnen zu trauen wagte. Wenn ihr Vater sie küßt, so sieht sie die Mutter mit so zärtlichen und demüthigen Blicken an, daß man fühlt, wie ihr Herz durch ihre Augen sagt: ach, warum verdiene ich nicht mehr von dir dasselbe!
Frau v. Étange hat mich mehrmals allein zu sich gerufen, und ich habe an der Milde ihrer Vorwürfe und an dem Tone, in welchem sie von Ihnen spricht, leicht erkannt, daß Julie sich große Mühe gegeben hat, die nur zu gerechte Entrüstung der Mutter gegen uns zu mildern und daß sie Alles gethan hat, was in ihren Kräften stand, um uns auf Kosten ihrer selbst zu rechtfertigen. Auch Ihre Briefe tragen in dem Ausdrucke einer übermäßigen Liebe eine Art Entschuldigung in sich, die meiner Tante nicht entgangen ist; sie macht weniger Ihnen den Mißbrauch ihres Vertrauens zum Vorwurfe, als sich selbst die Einfalt, daß sie es Ihnen geschenkt hat. Sie schätzt Sie genug, um anzunenmen, daß kein anderer Mann an Ihrer Stelle besser widerstanden haben würde; sie schreibt Ihre Fehltritte selbst auf Rechnung Ihrer
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