Julie oder Die neue Heloise
Schauspiel des Lasters nicht ertragen kann? Der weise beobachtet die öffentliche Unordnung, der er nicht Einhalt thun kann, mit Schmerz in seinen Mienen; aber der Privatunordnung widersetzt er sich oder wendet die Augen ab, um sie nicht durch seine Gegenwart scheinbar gut zu heißen. War es übrigens nöthig, dergleichen Gesellschaft zu sehen, um zu wissen, was in ihnen vorgeht und was für Reden da geführt werden? Ich wenigstens kann, nach ihrem Wesen schon und nach dem Wenigen, was Sie mir davon gesagt haben, leicht das Uebrige errathen, und, wenn ich mir das Vergnügen vorstelle, das dabei zu finden ist, so kenne ich auch die Leute, die danach gehen.
Ich weiß nicht, ob Ihre Philosophie sich bereits die Grundsätze angeeignet hat, die, wie man sagt, in den großen Städten über die Duldung solcher Orte herrschen; ich hoffe aber wenigstens, daß Sie nicht zu Denen gehören, welche sich selbst genug verachten, um sich die Benutzung derselben zu verstatten, unter dem Vorwande, ich weiß nicht welcher eingebildeten Nothwendigkeit, von der nur Leute von schlechtem Wandel etwas wissen. Als ob die beiden Geschlechter in dieser Hinsicht von verschiedener Natur wären und dem gesitteten Manne zur Zeit der Abwesenheit oder im Cölibate Aushülfen nöthig wären, deren die gesittete Frau nicht bedarf! Wenn dieser Wahn Sie nicht zu Prostituirten führt, so fürchte ich wenigstens, daß er auf die Dauer Sie selbst auf Irrwege führe. Oh! wenn Sie verächtlich sein wollen, seien Sie es wenigstens ohne Ausrede, und fügen Sie nicht der Unzucht noch die Lüge hinzu. Alle solche vorgeblichen Bedürfnisse haben ihre Quelle nicht in der Natur, sondern in freiwilliger Berückung der Sinne. Selbst die Vorspiegelungen der Liebe läutern sich in einem keuschen Herzen und verderben kein Herz, das nicht schon verdorben ist: im Gegentheile, die Reinheit erhält sich durch sich selbst; die Begierden, welche immer zurückgedrängt werden, gewöhnen sich, nicht wieder zu entstehen, und die Versuchungen vervielfältigen sich nur dadurch, daß man sich daran gewöhnt, ihnen zu erliegen. Zweimal hat mich dieFreundschaft getrieben, meinen Widerstand gegen die Behandlung eines Gegenstandes dieser Art zu überwinden: dieses Mal wird das letzte Mal sein; denn durch welches Mittel dürfte ich hoffen von Ihnen zu erlangen, was Sie dem Anstande, der Liebe und der Vernunft nicht gewähren?
Ich komme zu dem wichtigen Punkte zurück, mit welchem ich diesen Brief begonnen habe. Zu einundzwanzig Jahren schickten Sie mir aus dem Wallis ernste, sinnige Schilderungen; zu fünfundzwanzig Jahren schreiben Sie mir aus Paris leeren Tand, Briefe, in denen ich Sinn und Urtheil überall einem gewissen witzelnden Tik aufgeopfert finde, der gar nicht in Ihrem Charakter liegt. Ich weiß nicht, wie Sie es angefangen haben, aber seitdem Sie an dem Sitz der Talente leben, scheinen die Ihrigen Ihnen auszugehen; Sie hatten bei den Bauern gewonnen, und mitten unter den schönen Geistern verlieren Sie. Es ist nicht die Schuld des Ortes, an dem Sie leben, sondern der Bekanntschaften, die Sie gemacht haben, denn nirgends muß man so sorgfältig wählen, als wo das Beste mit dem Schlechtesten vermischt ist. Wenn Sie die Welt studiren wollen, so sehen Sie verständige Leute, die sie aus langer Erfahrung und ruhiger Beobachtung kennen, nicht junge Sausewinde, die nur die Oberfläche sehen und Lächerlichkeiten, deren sie sich selbst schuldig machen. Paris ist voll von Gelehrten, die im Denken geübt sind und denen dieser große Schauplatz alle Tage dazu Stoff bietet. Sie werden mich nicht glauben machen, daß diese ernsten, fleißigen Männer wie Sie von Haus zu Haus, von Coterie in Coterie laufen, um die Frauen und das junge Volk zu amüsiren und in leeres Geschwätz ihre ganze Philosophie zu setzen. Sie besitzen zuviel Würde, um so ihren Stand zu erniedrigen, ihre Talente preis zu geben und durch ihr Beispiel Sitten zu befördern, die zu verbessern ihre Pflicht wäre. Wenn es auch die Meisten thäten, werden doch sicher Manche sein, die es nicht thun, und diese sollten Sie aufsuchen.
Ist es nicht auch noch sonderbar, daß Sie selbst in den Fehler verfallen, welchen Sie den modernen Lustspieldichtern vorwerfen, daß Paris für Sie nur angefüllt ist mit Leuten von Stande, und daß die Personen Ihres eigenen Standes die einzigen sind, von denen Sie nicht reden? Als ob Ihnen die Adelsvorurtheile nicht theuer genug zu stehen kämen, um sie zu hassen, und Sie sich
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