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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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herunterzusetzen glaubten, wenn Sie mit anständigen Bürgerlichen umgingen, die doch vielleicht dort den ehrenwerthesten Stand bilden, Entschuldigen Sie sich, nur nicht mit den Bekanntschaften Milord Eduard's: mit Hülfe Deren würde es Ihnen nicht schwer geworden sein, andere in einem niedrigeren Stande zu machen. So viele Leute wollen aufwärts steigen, daß es immer leicht ist, hinabzusteigen, und Ihrem eigenen Geständnisse nach, ist es das einzige Mittel, die wahren Sitten eines Volkes kennen zu lernen, daß man sein Privatleben in denjenigen Klassen, welche die zahlreichsten sind, studire: denn wenn man bei Denen stehen bleibt, welche immer repräsentiren, so sieht man nichts als Komödianten.
    Ich wünschte wohl, daß Ihre Neugier noch weiter ginge. Warum ist in einer so reichen Stadt das niedere Volk so im Elend, während bei uns, wo es keine Millionäre giebt, die äußerste Entblößung so selten ist? Diese Frage verdient es, wie mir scheint, gar sehr, daß Sie Nachforschungen darüber anstellen, aber bei den Leuten, mit denen Sie leben, dürfen Sie freilich nicht hoffen, ihre Lösung zu finden. In den vergoldeten Appartements sieht sich um, wer Unterricht in den vornehmen Manieren der Welt haben will; aber der Weise läßt sich in ihre Mysterien einweihen in der Hütte des Armen. Dort gewahrt man augenscheinlich die finsteren Schliche des Lasters, jene Schliche, die es in der feinen Gesellschaft unter geschminkten Worten versteckt dort unterrichtet man sich, durch welche geheime Schändlichkeiten der Mächtige und Reiche den letzten Bissen Brot dem Unterdrückten entreißt, den er öffentlich zum Schein bedauert. Ach! wenn ich unseren alten Militärs in dieser Hinsicht Glauben schenken darf, was würden Sie erfahren in den Bodenkammern eines fünften Stockes, was für Dinge, die man in den Hotels des Faubourg Saint-Germain mit tiefem Schweigen bedeckt! und wie viel schöne Phrasenmacher würden beschämt dastehen mit ihren erheuchelten Humanitätsmaximen, wenn alle Unglücklichen, die sie zu Grunde gerichtet, sich einstellten, um sie Lügen zu strafen!
    Ich weiß, man hat nicht gern den Anblick von Elend, das man nicht lindern kann, und selbst der Reiche wendet die Augen ab von dem Armen, dem er Hülfe versagt; aber es ist doch nicht Geld allein, was die Unglücklichen brauchen, und nur Die, welche träg im Gutesthun sind, wissen nur mit dem Beutel in der Hand Gutes zu thun. Tröstungen, Rathschläge, Pflege, Freunde, Protection, wie viele Hülfsmittel stehen, wenn man auch keine Reichthümer besitzt, dem Mitleid zu Gebote, um dem Dürftigen beizuspringen! Wie Mancher wird nur deshalb unterdrückt, weil es ihm an einem Organe fehlt, um seine Klage vernehmlich zu machen! Es liegt oft nur an einem Worte, das er nicht zu sprechen weiß, an einem Grunde, den er nicht entwickeln kann, an der Thür eines Vornehmen, die er sich nicht zu öffnen im Stande ist. Der furchtlose Muth uneigennütziger Tugend reicht schon hin, zahllose Hindernisse aus dem Wege zu räumen, und die Beredtsamkeit eines braven Mannes kann die Tyrannei inmitten ihrer Macht erschüttern.
    Wenn Sie daher in Wahrheit Mensch sein wollen, lernen Sie wieder herabsteigen. Die Menschlichkeit fließt gleich einem reinen, erquickenden Wasser und befruchtet die tief gelegenen Orte; sie sucht immer den Abfall, sie läßt die öden Felsen trocken liegen, welche das Gefilde bedräuen und nur schädlichen Schatten geben oder Wetter entsenden, um die Nachbarschaft zu zerschmettern.
    So, mein Freund, zieht man Vortheil von der Gegenwart, indem man sich zugleich für die Zukunft unterrichtet und die Güte nimmt die Zinsen vom Gewinne der Weisheit voraus, damit man, wären etwa die erlangten Aufklärungen unbrauchbar, deshalb doch nicht die Zeit verloren achten müsse, die man auf ihren Erwerb verwendet hat. Wer unter Leuten, die nach Stellen gehen, leben muß, kann sich nicht vorsorglich genug gegen ihre vergifteten Maximen waffnen, und da ist beständige Wohlthätigkeitsübung allein das, was die Herzen, und wären es die besten, wahrt, daß sie nicht von den Ehrgeizigen angesteckt werden. Trauen Sie mir, versuchen Sie es mit dieser neuen Art Studium, sie ist Ihrer würdiger als jene, die Sie unternommen haben; und wie der Geist sich verengt, je mehr die Seele verdirbt, so werden Sie umgekehrt bald fühlen, wie die Uebung erhabener Tugenden den Genius hebt und nährt, wie innige Theilnahme an fremdem Unglücke besser dazu hilft, die Quellen desselben zu

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